Sich seinen Ängsten zu stellen, erfordert Mut – über diese dann aber auch eine Geschichte auf Papier zu bringen, eine ganze Menge mehr. Genau das taten die Teilnehmenden der Dr. Buhmann Schule & Akademie und schrieben sich mit einer Rekordanzahl am hauseigenen Schreibwettbewerb ein.
Das Licht des weihnachtlichen Tannenbaumschmucks verlieh der Preisverleihung in der Cafeteria der Prinzenstraße 13 ein gemütliches Flair und ein besonderes Ambiente. Gleich 17 Schülerinnen und Schüler beziehungsweise Studierende setzten sich mit den Themen Angst oder Dankbarkeit auseinander und ließen ihre Werke anschließend von einer hochkarätigen Jury bewerten. Schulleiterin Christina Gallus freute sich, im Komitee erneut Initiatorin Dr. Marianne Wurth, den ehemaligen Kulturredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung Karl-Ludwig Baader sowie erstmals Lehrerin Corinna Busch begrüßen zu dürfen. „Wir haben so viele Geschichten bekommen wie noch nie. Die Stücke waren bewegend, berührend und sehr lesenswert“, ist die Schulleiterin von den Werken des diesjährigen Schreibwettbewerbs vollends überzeugt. Das Vertrauen, das von Schülerseite entgegengebracht wurde und das Ausleben einer teils verletzbaren Seite benötige jede Menge Courage und so war auch der allseits bekannte und bei Sportlern eher verpönte Spruch: „Alle können sich wie Gewinner fühlen“ an dieser Stelle goldrichtig platziert.
Die meisten der Mitwirkenden kamen aus den kreativeren Vertiefungsrichtungen und schrieben ihre Geschichten teils auf Englisch. Zum ersten Mal nahmen auch Studierende des Akademiehauses am Schreibwettbewerb teil. Das Niveau der Geschichten war qualitativ so hochwertig, dass die Silber- und Bronzeplätze gar doppelt besetzt wurden.
Bei einem Platz waren sich jedoch alle einig: Als Siegerin ging Jana Tabita Riehl hervor, die mit ihrer herzergreifenden Geschichte von einer Skifreizeit einen „Ausschnitt eines zerstörten Lebens“ emotional detailliert porträtierte. Die Geschichte habe sie aus dem Impuls heraus geschrieben, erklärte die Preisträgerin am Ende der Veranstaltung und las dem gespannten Publikum stolz ihren Gewinnertext vor. Auch in ihrer Freizeit schreibt die 19-Jährige gern – vor allem Gedichte faszinieren sie. Für das Preisgeld in Höhe von 200 Euro hat sie auch schon eine passende Verwendung gefunden und möchte davon einen Teil ihres Führerscheins finanzieren.
11 Jahre. Skifreizeit. Steibis. Außenseiterin. Alleine.
Stille. Sitzen auf einem Hochbett. Stille.
Hektisches reden. Mitschülerin. Ein Tritt ins Gesicht.
Schock. Schmerzen. Fluchtdrang. Fluchtversuch.
Sprung vom Bett. Aufgehalten. Würgende Hände um den Hals.
Angst.
Hektisches Strampeln. Panik. Angst. Angst.
Plötzliche Befreiung. Sturz auf den Boden.
Tunnelblick. Verwirrtheit. Fluchtdrang.
Fliehen. Rennen. Einfach weg.
Treppe runter. Um die Kurve. Damentoilette.
Mittelkabine. Einschließen. Zusammenbrechen.
Angst.
Zittern. Weinen. Todeswunsch.
In der Ecke liegen. Klein. Ängstlich. Unbemerkt.
Tür öffnet sich. Still bleiben. Mund zuhalten.
Angst.
Person geht. Unbemerkt. Ängstlich. Klein.
Stille. Zittern. Weinen. Todeswunsch.
Erneutes Türöffnen.
Angst.
Person geht. Erleichterung. Zusammenkauern.
Langsames beruhigen. Gefühllosigkeit. Stille.
Ewigkeit. Stunden vergehen. Stille.
Tür öffnet sich. Mädchen Gerede. Diskussion.
Kabine wird aufgebrochen. Anstarren. Packen. Mit sich ziehen.
Angst.
Treppe rauf. Durch den Flur. Zurück ins Zimmer. Zurück aufs Hochbett.
Stille. Taubheit. Leere.
Angst.
Ich war neun Jahre alt, als es passierte:
An jenem Tag wurde ich zu meinem Vater geschickt, während meine Mutter ins Krankenhaus kam.
Mama wusste schon, was passieren würde. Matthias wusste schon, was passieren würde. Sie wussten alle, was passieren würde.
Sie wussten, dass du diese Welt niemals sehen würdest. Dass du nie deine ersten Schritte machen würdest. Dass du nie deine ersten Worte sagen würdest.
Ich habe es damals nicht verstanden. Habe nicht verstanden, was passiert ist: Warum ich bei meinem Vater bleiben sollte? Warum du nicht nach Hause konntest?
Ich weiß nicht mehr viel von dieser Zeit, aber ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich auch ins Krankenhaus durfte – zur Aussegnung.
Ich saß mit deinem Vater und Mama in einem weißen Zimmer. Du warst auch da. Es war das erste Mal, dass ich dich sehen durfte. Du sahst ganz anders aus, als ich dachte. Ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Du sahst nicht richtig aus. Nicht so, wie es sein sollte. Eine Frau kam ins Zimmer. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte. Ich habe nur auf dich geachtet. Auch wenn ich oft an dir vorbeischauen musste, weil dein Anblick nicht schön war.
Die Frau hat mir an diesem Tag einen Engel geschenkt. Ich habe ihn immer noch. Er steht auf meinem Schreibtisch und passt auf mich auf. Ich wünschte, du hättest auch einen Engel gehabt, der auf dich aufpasst hätte. Vielleicht hätten wir dann die Chance gehabt, uns kennenzulernen.
Ich habe Mama oft traurig gesehen in dieser Zeit. Sie hat oft geweint und ich wusste nie, wie ich ihr hätte helfen können. Ich war doch erst neun.
Wir haben dich alle sehr vermisst. Wir waren an all deinen Geburtstagen bei dir und haben gefeiert. Haben dich gefeiert, weil du in unseren Herzen immer noch einen Platz hattest.
Heute feiern wir nicht mehr, aber wir denken immer noch an dich. Wir haben dich nicht vergessen. Ich habe dich nicht vergessen. Ich weiß noch, dass ich nicht weinen konnte in dieser Zeit. Dass ich nicht um dich weinen konnte. Ich weiß noch, dass ich mich immer fragte, warum? Warum kann ich nicht weinen? Warum kommen keine Tränen?
Heute geht es. Heute kann ich um dich weinen. Heute kann ich um den Bruder weinen, den ich nie haben durfte. Obwohl ich ihn mir immer so sehr gewünscht hatte.
Ich war elf Jahre alt, als es passiert: Als meine Mama und euer Vater mir von euch erzählten.
Ich habe mich so sehr gefreut. Habe mich so sehr auf euch gefreut. Ich konnte es kaum erwarten.
Aber ich war auch vorsichtig. Ich wollte nicht schon wieder denselben Schmerz spüren. Wollte nicht schon wieder umsonst hoffen. Wollte Mama nicht schon wieder weinen sehen.
Ich erinnere mich noch genau, wie wir in dieser Zeit, damals in der sechsten Klasse im Religionsunterricht über Furcht gesprochen haben. Während alle anderen sagten, sie fürchten sich am meisten vor Spinnen oder schlechten Noten, erzählte ich, ich fürchte mich am meisten davor, euch zu verlieren.
Ich weiß noch, wie mich nie jemand verstanden hat: Alle sagten immer, ich würde es hassen, meinen Platz zu teilen. Dass ich das Schreien hassen würde. Dass ich es hassen würde, keine Aufmerksamkeit mehr zu bekommen. Dass ich das Aufpassen hassen würde. Dabei wollte ich euch bloß gesund und glücklich in Mamas Armen sehen.
Ich weiß nicht mehr viel von dieser Zeit, aber ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich auch ins Krankenhaus durfte. Ich kam in Mamas Zimmer und ihr wart auch da. Es war das erste Mal, dass ich euch sehen durfte. Ihr saht genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ihr saht richtig aus. So, wie es sein sollte.
Ich weiß noch genau, wie ich auf dem Weg nach Hause zwischen euch saß.
Jeder von euch hatte einen meiner Finger im Mund. Ihr habt so friedlich dagelegen.
Und da wusste ich, ich brauche keine Angst mehr zu haben.
Ich sage es nicht gern zu dir, denn du bist mein ältester Freund, doch möchte ich, dass du meinen Wunsch endlich erhörst. Seit Tag 1 warst du stets an meiner Seite. Du hieltst mich fest im Arm, wenn meine Welt in Stücken lag, und auch bei den schönsten Momenten fühlte ich deine kühle Anwesenheit im Herzschlag. Täglich wache ich neben dir auf, meist bis du da noch nicht ganz wach, aber wenn wir auf dem Weg zur Schule sind, flüsterst du mir schon leise ins Ohr: ,,Pass auf, was du machst”.
Angekommen, wirst du wacher, du streckst deine gewaltigen Klauen aus und zerrst langsam an meinen Körper. Nichts Neues für mich, denn deine Narben trage ich schon immer. Und jeder sieht sie sofort, wenn er versucht mit mir zu sprechen. ,,Gefahr’’ sind deine warnenden Worte und ich verfalle in deine Fluchtorte. Denn dort bautest du mir ein Wolkenbett und lagst mir schwer auf meinem erstarrten Skelett. Kein einziges Wort bringe ich in Frust aus mir heraus.
Im Unterricht bist du wie ein unruhiges Biest. Wenn der Lehrer mich aufruft, stichst du mich geschwind und es folgt ein kalter Schauer, der über meinen Rücken rinnt.
“Sprich, Sprich doch, du lausige Seele” und du schnürst mir zu die Kehle. Still wird der Raum und die wartenden Blicke sind auf mich gerichtet. Zittern? Nein, nie sah ich mich zittern, so trichtertest du es mir doch von Kindheit an ein, dass dies eine normale Reaktion sei. Keiner meiner Gedanken bringt eine Lösung ein und nach kurzer Zeit lässt der Lehrer es sein. Er schweift von uns ab, lässt mich in Ruh. Du löst deinen Griff und der Schmerz enthüllt ein betäubendes Gift.
Manch einer beschreibt dich als süß, manch einer als gut erzogen, doch du bist für mich nichts weiteres mehr als eine Klette. Denn durch dich erlebte ich Einsamkeit, durch dich Abneigung. So viele lernten mich nie kennen, weil du es verwehrtest. So gern ich damals deine Hilfe nahm, so bin ich jetzt abhängig von ihr. Egal was ich tue, wie viel ich arbeite, wie viele Medikamente ich schlucke, du bist und bleibst an deinem Platz, tief in meinem Kopf hast du es dir gemütlich gemacht.
Ich mache Schluss. Ich beende das zwischen uns. Ich will dich nicht mehr in mir tragen und täglich deine Wunden haben. Ich möchte endlich frei von dir sein. Ich möchte ich selbst sein. Angstgelöst durch mein Leben gehen und nie wieder deine Spuren sehen.
Traum, doch nie die Wirklichkeit.
Hallo du, ich bin Thomas. Ich möchte etwas loswerden. Etwas, von dem ich nicht weiß, ob es mich je loslassen wird. Aber es würde mich freuen, meine Geschichte mit jemandem zu teilen.
Als ich klein war, vielleicht war ich zwölf, besuchte ich meine Tante in ihrer Lodge in Blackwood Pines während meiner Winterferien. Ich kannte sie nicht gut, nur aus Fotoalben und Erzählungen. Alles, was ich über sie selbst wusste, war, dass sie alles andere als gesprächig sei.
Bei Tante Beth sollte ich kräftig mit anpacken. Schnee schippen, Holz holen und Einkäufe erledigen. Aber es gefiel mir. Die kalte Luft in meiner Lunge und diese wunderschöne Landschaft.
Oft sind wir die Wanderwege abgegangen. Wir haben dabei kein Wort gesprochen, sondern nur die Landschaft genossen. Es hatte etwas so Befreiendes, so isoliert in einem Wald auf einem verschneiten Berg zu sein. Ich konnte spüren, dass Tante Beth eine verwandte Seele war.
Eines Abends, es war Vollmond, wollte ich unbedingt nach draußen und einen Spaziergang machen. Meine Tante sträubte sich etwas dagegen, so spät noch nach draußen zu gehen, aber nach einer Weile hatte ich sie dann doch überzeugt. Ich denke, sie wollte den Mond insgeheim genauso gerne durch die Tannenzweige sehen wie ich. Als wir wieder auf der Veranda ankamen, blieb ich stehen und blickte noch ein letztes Mal auf den hell strahlenden Mond über mir. Im Augenwinkel sah ich einen Schatten durch die Bäume huschen. Er blieb neben einem Felsen stehen. Ich konnte nur schwer die Form im dunklen Dickicht ausmachen. Vier lange Beine, eine Schnauze und ein riesiges Geweih. Ich hab darauf gezeigt und flüsterte Tante Beth zu „schau Tante Beth, ein Hirsch“. Sie drehte sich langsam um, sah wie in Zeitlupe in die Richtung, in die meine kleine Kinderhand zeigte, und erstarrte. Wir alle erstarrten für einen Augenblick. Ich, meine Tante und der Schatten des Tieres. Es war so still, ich dachte, ich könnte ein rauchiges Atmen von dem Felsen aus hören. „Das ist kein Hirsch“, unterbrach Tante Beth die tote Stille ganz leise flüsternd. Sie drehte sich langsam um und ging in Richtung Tür. Ich konnte diese Aussage in meinem Kopf gar nicht fassen. Was meinte sie damit? Aber bevor ich sie fragen konnte, war sie schon im Gebäude, und ich beließ es schließlich dabei, da Tante Beth nicht gern ausschweift. Ich bin ihr also einfach gefolgt und habe nichts mehr gesagt. Als ich mir einen Stuhl nahm, um aus dem Küchenfenster in Richtung des Schattens zu sehen, war er schon in den Wald verschwunden.
Irgendwann bin ich mitten in dieser Nacht aufgewacht. Ich ging also in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Auf dem Weg zurück ins Bett sah ich meine Tante im Wohnzimmer auf ihrem Schaukelstuhl mit einer ihrer unglaublich hellen Taschenlampen. Sie leuchtete durch das offene Balkonfenster das Walddickicht ab. Ich war schon wieder so verwirrt davon, aber habe mich dann auch nicht getraut, sie anzusprechen.
Sag mal, ist dir das nicht zu nervig mir zuzuhören?
Nein? Bist du dir sicher?
Also gut, jedenfalls musste Beth eine Woche später etwas ausliefern und würde erst am nächsten Morgen wiederkommen. Ich durfte nicht mit, also musste ich diese Nacht alleine auskommen. Es war vielleicht 22 oder 23 Uhr, da sah ich immer noch allein fern.
Zwischen den Geräuschen des Windes und des Fernsehers hörte ich ein anderes Geräusch, wurde neugierig und stellte den Fernseher leiser, um zu horchen. Ich ging zur Hintertür, zog meine Sachen an und trat vors Haus. Als ich auch nur einen Schritt über die Türschwelle machte, wurde es mir flau im Magen. Ich kann es nicht in Worte fassen: dieses Gefühl, als ich da stand und der eiskalte Wind mir den Schnee ins Gesicht blies. Ich wusste irgendetwas stimmte hier nicht.
Ich hörte, wie die Krähen schreien. Aber so aufgebracht und irgendwie anders. Die Schreie der Krähen schienen alle von einem Punkt aus zu kommen und als ich mich suchend umsah, stoppten die Rufe auf einen Schlag und es war still. Totenstill. Nur der Wind heulte weiter vor sich hin. Ich stand still, wie erstarrt und schaute in den düsteren Wald. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass vermutlich gleich ein Bär oder ein Wolf auf mich zugestürmt kommen würde.
Aber stattdessen…Eine rauchige, kratzige Stimme aus dem Dunkel zwischen den Tannen rief meinen Namen.
„Thhhooooooomaaaaaaass….“
Die Stimme war tief und langsam und kratzte bei jeder Silbe, die sie aussprach. Der Klang mischte sich in den des Windes und hörte sich so an wie ein heulendes Echo.
Nach einem Moment erwachte ich aus meiner Starre und schlüpfte so schnell wie möglich durch den Spalt der Hintertür und verschloss diese zweimal, bevor ich durchs Haus rannte und alle Riegel vor die Fenster schob. Ich löschte noch alle Lichter und verkroch mich aufs Sofa vor dem Fernseher. Ich verkrampfte mich so sehr mit tausenden Gedanken, die durch meinen Kopf rasten, und Tränen, die mir die Wange runterliefen.
Ein paar Mal hörte ich diese gespenstische Stimme noch ums Haus herumstreifen, wie sie immer wieder meinen Namen rief.
„Thhooooooooomaaaass….“
Da saß ich, zitterte und verkrampfte mich so sehr, dass meine Nägel die Haut meiner Oberschenkel verletzten, die ich so fest umklammerte. Nach einer Weile hörte ich nichts mehr. Totenstille. Für viele, viele Minuten. Ich starrte die ganze Zeit die Uhr an und bin jedes Mal, wenn der Minutenzeiger umgesprungen ist, erschrocken.
So langsam fragte ich mich, ob ich mir diese fürchterliche Stimme nur eingebildet hatte.
Ich hörte ein dumpfes Geräusch. Es schien von dem Küchenfenster in Richtung des Felsens zu kommen. Es hörte sich an, als wäre es etwas Natürliches, wie ein klopfender Ast gegen ein Fenster. Aber so hörten sich keine Äste an. Ich weiß nicht, warum es mir in den Sinn kam, aber ich dachte, es hörte sich an, wie wenn ein Geweih aus Versehen am Fensterglas streift.
Ich hielt den Atem an.
Wieder diese Stimme.
„Es ist so kalt draußen, Thomas, willst du mich nicht reinlassen?“
Ich hielt den Atem weiter an.
Die Stimme war so nah, ich konnte hören, dass ihr Tonfall irgendwie unnatürlich war. Es schien so, als würden Lautsprecher die richtigen Laute und Worte ertönen lassen, aber ohne die Bedeutung zu kennen und diese richtig zu betonen.
Ich saß immer noch zitternd wie Espenlaub auf dem Sofa und versuchte mich mit aller Kraft unsichtbar zu machen. Doch irgendetwas Unnatürliches in mir drängte mich hin zum Fenster. Unkontrolliert drehte ich meinen Kopf in Richtung Küchenfenster.
Da, wo der Mond ins Fenster geschienen hätte, war nichts. Eine schwarze Silhouette blockierte die Sicht aus dem Fenster.
Ich saß im Dunkeln und starrte auf das Fenster. Meine Augen waren vom Licht des Fernsehers noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, und ich musste meine Augen anstrengen, um die dunkle Silhouette genauer vom schwarzen Himmel trennen zu können. Alles, was ich bis hierhin ausmachen konnte, war, dass dieses Etwas krumm auf allen Vieren stand und sich zu bücken schien. Das, was unverkennbar war, war sein deformiertes Geweih.
So langsam ließ mich das kümmerliche blau flackernde Licht des Fernsehers hinter mir das Gesicht des Wesens erkennen, wie es seine feuchte Nase gegen die Fensterscheibe presste. Was ich noch deutlich vor Augen habe, ist seine menschliche Haut mit etwas Fell daran, welche viel zu eng und straff über seinen hirschähnlichen Schädel gespannt ist. Wie es mich ansah… Ich hörte, wie draußen Tropfen auf die Fensterbank platschten. Sie schienen wohl aus seinem Maul zu kommen.
Alles, was danach geschah, weiß ich nicht. Ich weiß nur noch, dass mir so übel wie noch nie war. Mein Zittern wurde schlimmer, und das Flimmern vor meinen Augen wurde immer schlimmer. Das letzte, was ich wahrnahm, war ein Schlag auf Holz. Das muss wohl mein Körper gewesen sein, der vom Sofa auf den Boden geknallt ist.
Ich bin erst wieder am Morgen aufgewacht, mein Kopf tat weh und ich war froh, dass ich scheinbar noch am Leben war. Ich beschloss, die Ereignisse der letzten Nacht fürs Erste für mich zu behalten.
Ich hatte nur noch wenige Tage bei Tante Beth. Seitdem bin ich nicht mehr von ihrer Seite gewichen, und ich war heilfroh, dass sie nicht vorschlug, im Wald spazieren zu gehen.
Letztendlich habe ich ihr nie von dem, was ich gehört und gesehen habe, erzählt. Einerseits, weil ich davon überzeugt war, dass sie es mir nicht glauben würde, und andererseits, weil ich es mir nichtmal selbst glauben konnte.
Ich habe sie seither nie wieder besucht. Je älter ich wurde, desto besser klappte es, die Ereignisse, die bei Tante Beth geschehen sind, zu verdrängen und zu verleugnen. Bis vor ein paar Jahren, als alles zurückschwappte.
Tante Beth war verschwunden.
Als ihr Fehlen auffiel und man die Sache untersuchte, fand man keine Auffälligkeiten, außer ihrer geöffneten Vordertür. Was aber niemandem außer mir Sorge bereitete, waren die großen zweipaarigen Hufspuren, die zur Lodge und in den Wald führten.
Bis heute plagen mich Albträume von dem zweibeinigen Wesen, welches meine Tante mit Sicherheit zwischen die Tannen entführt hat.
Ich saß in meinem Wohnzimmer, als ich plötzlich eine Welle der Angst über mich hereinbrechen spürte. Ich konnte es nicht erklären, aber ich hatte das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde. Mein Herz begann zu rasen und ich wurde kurzatmig. Ich versuchte, mich zu beruhigen, aber es war, als ob mein Körper mich verraten würde. Je mehr ich versuchte, mich zu entspannen, desto ängstlicher wurde ich. Ich hatte das Gefühl, dass ich eine Panikattacke bekommen würde. Ich stand auf und versuchte im Zimmer auf und abzugehen, aber dadurch wurde mir nur noch schwindliger und unsicherer. Ich setzte mich wieder hin, legte den Kopf zwischen die Knie und atmete tief durch. Langsam verflüchtigte sich die Angst und ich konnte mich beruhigen. Dennoch war ich erschüttert und fühlte mich für den Rest des Tages unruhig.
Erst später wurde mir klar, dass heute der erste Schultag war. Ich hatte mich so sehr auf den Beginn der Schule gefreut, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass der Tag gekommen war. Ich versuchte mir einzureden, dass es keinen Grund zur Sorge gab, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich versuchte, mich auf die positiven Aspekte des Schulanfangs zu konzentrieren, aber meine Gedanken kreisten immer wieder um all die möglichen Dinge, die schief gehen könnten. Ich war so sehr mit meinen Ängsten beschäftigt, dass ich morgens nicht einmal meinen Wecker hörte. Ich wachte mit einem Schreck auf und merkte, dass ich an meinem ersten Schultag zu spät kommen würde.
Ich zog mich schnell an, schnappte meine Schulsachen und rannte zur Tür hinaus. Ich spürte, wie mein Herz in meiner Brust pochte, als ich das Gebäude betrat. Ich war von Fremden umgeben, und ich hatte das Gefühl, dass mich jeder ansah. Ich spürte, wie die Angst in mir aufstieg, aber ich versuchte, sie zu verdrängen. Ich fand den Weg zu meiner ersten Unterrichtsstunde und setzte mich hin. Ich spürte, wie alle mich ansahen, und wollte am liebsten in meinem Sitz versinken und verschwinden. Die Lehrerin begann mit der Anwesenheitsliste und ich spürte, wie meine Angst mit jedem Namen, den sie aufrief, stieg. Als sie bei meinem Namen angelangt war, konnte ich kaum eine Antwort herausquetschen. Ich war so versteinert, dass ich mich kaum bewegen konnte.
Die Unterrichtsstunde schien sich ewig hinzuziehen. Ich war so aufgeregt, dass ich mich nicht auf das konzentrieren konnte, was der Lehrer sagte. Ich spürte, wie sich der Schweiß auf meiner Stirn bildete und meine Hände zitterten. Ich versuchte, tief durchzuatmen, um mich zu beruhigen, aber es schien nicht zu helfen. Ich hatte das Gefühl ich würde eine Panikattacke bekommen. Schließlich läutete es, und ich konnte aufstehen und das Klassenzimmer verlassen. Ich ging schnell zu meiner nächsten Klasse, aber ich spürte, wie die Angst immer noch durch meinen Körper strömte. Ich war so aufgewühlt, dass ich mich für den Rest des Tages kaum noch auf etwas anderes konzentrieren konnte. Die einzige Konstante war die Uhr in jenem Klassenzimmer, die mit jedem Blick langsamer wurde. Ich war erleichtert, als die Schlussglocke läutete und ich nach Hause gehen konnte.
Als ich durch die Tür trat sah ich in die besorgten Gesichter meiner Eltern. Sie merkten, dass etwas nicht stimmte, und fragten mich was passiert sei. Ich versuchte das Erlebnis herunterzuspielen, aber ich merkte, dass sie sahen, wie aufgewühlt ich war. Wir sprachen eine Weile über meine Angst und wie ich mich fühlte. Sie versicherten mir, dass alles besser werden würde und dass ich mich an die Schule gewöhnen würde. Sie sagten mir, dass sie für mich da sein würden, wenn ich jemals reden wollte.
Mit der Zeit ging es mir besser, und die Angst begann sich zu verflüchtigen. Am nächsten Tag konnte ich wieder zur Schule gehen, und ich begann mich langsam an die neue Umgebung zu gewöhnen. Die Erfahrung hat mir jedoch das Gefühl gegeben, dass ich mir meiner Ängste und der möglichen Auslöser bewusster bin. Ich fing an meine Ängste proaktiver zu bewältigen, und ich begann, mehr Selbstvertrauen zu haben. Mir wurde klar, dass ich alles durchstehen kann, solange ich die Unterstützung meiner Familie habe.
In Harry Potter und der Gefangene von Azkaban, während des Unterrichts Verteidigung gegen die dunklen Künste, ist eines der interessantesten magischen Wesen des Zaubereruniversums zu sehen: Der Irrwicht. Gut, das stimmt nicht wirklich, zu sehen ist nur die Form, die das Wesen für jeden Schüler, der sich ihm gegenüberstellt, auswählt. Es stellt die größte Angst seines Gegenübers dar, um ihn zu verwirren und aus der Fassung zu bringen. Jeder Harry-Potter-Fan, der diese Szene gelesen oder im Film gesehen hat, stellte sich direkt die Frage: Was würde das Wesen bei mir für eine Gestalt annehmen? Dunkelheit? Feuer? Meine Familie und Freunde, wie sie vor mir liegen und ich hilflos dabei zusehen muss, wie ihnen etwas geschieht?
Jeder hat vor so vielen Dingen Angst. Nicht die Art von Angst, bei der man einen Kloß im Hals spürt, das Adrenalin in die Adern schießt und der Körper sich darauf vorbereitet, zu rennen oder anzugreifen. Sondern die Art von Angst, die einen nachts wachhält. Die dich auffrisst, je länger du darüber nachdenkst. Vielleicht musst du weinen oder dich übergeben nach einiger Zeit, doch das Gefühl bleibt. Diese Angst ist um Welten schlimmer. Denn wie wird man sie los? Durch Alkohol und Partys? Harte Arbeit, bis man zu erschöpft ist, um irgendwas zu fühlen?
Ich wünschte, ich wüsste die Antwort auf so eine denkbar simple Frage.
Wie würde das Wesen aus Harry Potter also meine größte Angst darstellen? Die Angst davor, alleine zu sein? Denn bei der Angst davor, allein zu sein, gibt es Unterschiede. Natürlich ist es eine furchtbare Vorstellung, die eigene Familie oder die engsten Freunde durch Unfälle oder Krankheiten für immer zu verlieren, doch mir macht etwas anderes mehr Angst als das.
Der Gedanke, der mich nächtelang wachhält, ist der, dass Leute, die mir wichtig sind, mich nicht sehen wollen. Sie haben sich von mir abgewandt, meistens ohne einen bestimmten Grund, manchmal auch mit einem, der etwas mit mir zu tun hat. Ich habe an einem bestimmten Punkt in unserer Beziehung einen Fehler gemacht. Und die Konsequenzen sind, dass ich ignoriert werde. Ausgestoßen, wie eine Fremde behandelt, ohne Erklärung oder Abschied. Das sind die Stunden, in denen man andauernd sein Handy anstarrt und auf etwas wartet. Irgendeine Nachricht, ein Anruf oder ein Zeichen, dass jemand Interesse an mir hegt.
Es gibt nichts Schlimmeres als das.
Du warst glücklich, du hattest alles, was du je wolltest: Menschen um dich, mit denen du dich verstehst und mit denen du dich zuhause fühlst. Doch das alles ist verschwunden. Und warum? Wegen etwas, was du getan hast. Es muss noch nicht mal etwas Schlimmes sein; ein Umzug, ein Schulwechsel, ein Kuss. Eine winzig kleine Sache und eine Freundschaft oder Beziehung ist kaputt. Monatelanges Kennenlernen, gemeinsames Lachen und Gespräche, Geheimnisse, die einander anvertraut wurden, all das hat plötzlich keine Bedeutung mehr. Es ist, als wurde man verstoßen. Ersetzt. Ich habe das Gefühl, ich bin unwichtig, ungewollt, allein.
Das Ekelhafteste an dieser Angst ist, dass sie immer da ist. Ich habe auch Angst vor der Dunkelheit, doch ist es immer Nacht? Nein. Ist es im Keller immer dunkel? Nein, man macht einfach das Licht an. Doch bei Freunden und Familie kann ich kein Licht anmachen. Ich versuche so sehr, dass Menschen mich mögen und ich mich selbst dabei nicht verliere, dass es mich anstrengt. Ich bin so müde, so müde von diesem ganzen Versuchen und Nachdenken, ob alles, was ich tue, Konsequenzen haben könnte.
Es wird gesagt, man soll sich selbst treu sein, sich nicht verstellen und auch alleine mit sich selbst zufrieden sein. Doch um glücklich zu sein, will ich anderen wichtig sein. Das ist alles was ich will. Also ist es doch logisch, dass meine größte Angst das Gegenteil davon ist. Wie würde der Irrwicht bei mir aussehen? Es zeigt, wovor ich mich am meisten fürchte, und wahrscheinlich würde es die Gestalt der wichtigsten Personen in meinem Leben annehmen. Irgendwie ironisch – oder?
Schon wieder liege ich hier, an einem Ort, der eigentlich mit Entspannung und Sicherheit verbunden sein sollte. Ich kralle mich in meine Decke und warte darauf, dass es endlich vorbei ist. Er steht in der hintersten Ecke meines Zimmers. Direkt neben meinem Schreibtisch. Dort steht er immer, jede Nacht. Er steht dort und starrt mich aus seinen leuchtend roten Augen an und weckt damit Erinnerungen, die ich tief in mir vergraben habe. Erinnerungen, die ich lieber nicht noch einmal hervorholen will. Ich kenne ihn mittlerweile, er ist nicht das erste Mal hier. Seine furchtlose und selbstsichere Ausstrahlung lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Er ist sich darüber bewusst, was für eine Angst er mir macht. Und er genießt es, genießt es, mir Angst zu machen und meine Nächte zur schlimmsten Zeit des Tages zu machen. Es fühlt sich an wie ein Albtraum, aus dem man nicht aufwachen kann, aber es passiert wirklich. Meine Hände zittern und mein Herz schlägt, als würde es mir gleich aus der Brust springen. Diese Angst zerfrisst mich von innen und zerrt an mir, als würde sie mich zerreißen. Als würde sie mich komplett einnehmen und mit in den Abgrund stürzen wollen. Schon oft habe ich mich gefragt, warum er da ist. Warum tut er mir sowas an? Geschieht mir dies zurecht? Ich bin kein schlechter Mensch, das weiß ich. Jedoch habe ich die eine oder andere Tat vollbracht, die nicht mehr mit dem Menschen übereinstimmt, der ich heute bin. Aber hat nicht jeder einen Teil der Vergangenheit, der dunkel ist? Der einem weiß macht, wie man nie wieder sein will? Deswegen frage ich mich viel zu oft, warum ich? Ich traue mich langsam, mich vorsichtig in der Dunkelheit umzusehen, nichts. Von ihm ist nichts mehr übrig. Die leuchtend roten Augen sind wie verschluckt von dem Schwarz der Dunkelheit. Er lässt mich mit den Gedanken und der Angst allein zurück. Und jede Nacht habe ich Angst, dass er wieder auf mich wartet.
Von Tag zu Tag steigt in mir der Verdacht,
es gibt zwei von mir, doch nur einer ist hier
Deine Stimme ist mir so nah und doch so fern
Sprichst du zu mir, aber ich nicht zu dir
Wohin ich auch geh, du folgst meiner Spur, doch warte ich nicht ab, bis du mich fasst. Das Licht in mir erlöschst du nicht, nicht wenn du vorher in mir zerbrichst.
Ich bin deine Schöpfung, dein Kopf und dein Geist
Das Böse in mir, ist auch ein Teil von dir
Denn du bist ich und ich bin du
Das Ebenbild deiner selbst, in das du verfällst
Habe keine Angst, sei nicht so stur. Lass dich fallen und versinke in den Klang meiner Wünsche. Durch die Dunkelheit, wohin es geht. An den Ort, wo die Ruhe uns herbeisehnt.
Ich höre es wieder, was soll ich nur tun
Der Raum, so fürchterlich kühl
Ich nehme sie und schlucke sie runter
Bunte Farben füllen den Kummer
Leise ist es geworden, doch deine Präsenz erklingt aggressiver. Von all meinen Schöpfungen warst du einst mir lieber. Schuld ist es meine, was habe ich getan. Lediglich geboren damit und nun eine große Qual.
Manchmal sehe ich ein Gesicht in der Menge, ein Gesicht, welches mir ach so bekannt vorkommt, so vertraut. Das Gesicht von jemandem, den ich schon lange verloren habe. Jemand, dessen Name ich schon lange vergessen habe. Doch schaue ich erneut hin, ist das Gesicht verschwunden. Ein Trick der Gedanken, erschaffen aus der Hoffnung, die Person wiederzusehen.
Doch die Gesichter, die Erinnerungen bleiben mir nicht. Eines Tages verblassen sie, bis ich nicht mehr weiß, welche Farbe ihre Augen haben, wie ihr Lächeln aussieht, wie sich ihr Lachen, ihre Stimme anhört, welche Kleidung sie gerne tragen, was ihre Lieblingsfarbe ist. So viel geht verloren. Am Ende bleibt nur ein Gefühl, eine Leere, als würde ein kleiner Teil von mir fehlen. Ein Teil von mir für immer verloren.
Bei jeder neuen Person, jedem Abschied habe ich Angst, dass es wieder so endet, dass noch jemand Wichtiges und Vertrautes für immer verschwindet. Dass wieder nur ein Gesicht, Erinnerungen und dann Leere bleiben.
Ich frage mich, ob es das alles wert ist? Ob eine Person, die nur einen Teil meines Lebens da ist, den Schmerz und Verlust am Ende ausgleicht. Ich frage mich, ob es immer so sein wird, ob jede mich nur für einen kleinen Teil meines Lebens begleitet, um mich dann zu verlassen. Ich frage mich, warum, egal was ich mache, jeder geht. Was mache ich falsch? Warum bleibt niemand?
„Piep piep piep“ – ich werde aus meinen Träumen gerissen, meine Hand fährt langsam zum Telefon, und ich drücke einen Knopf an der Seite. Ruhe. Der Regen prasselt unaufhörlich gegen mein Fenster. Seit Tagen regnet es schon, und der Wetterbericht gibt leider keine Hoffnung, dass es heute anders sein wird. Ich erhebe mich langsam aus meinem Bett und schlurfe Richtung Badezimmer. Ich überlege, welche Perücke ich anziehe. Heute werde ich lange blonde Haare haben, Aufregung und Nervosität machen sich in mir breit. Warum muss es heute so stark regnen, wenn ich nach zwei Wochen wieder zur Arbeit gehe? *Piep piep piep* – Knopf gedrückt. Ich muss mich beeilen. Vor meinem Schrank stehe ich verloren, was soll ich anziehen? Ich nehme ein hübsches Top, das ich vorher nie zur Arbeit anhatte. Es spannt, ich brauche unbedingt neue Oberteile. In der Küche wartet auf mich ein kläglicher Rest Bratkartoffeln, den ich schnell vertilge. Schuhe, welche zieh ich an? Die neuen oder doch die alten? Mein Kribbeln im Bauch wird stärker beim Anblick der neuen Schuhe, und ich entscheide mich für die neuen. Schnell packe ich noch mein Buch „Der Sandmann“ für die Bahn ein und meine Trinkflasche. Auf dem Weg Richtung Keller merke ich, dass das Fahrradfahren heute eine Herausforderung sein wird. Der Regen prasselt auf meine Regenjacke, der Bahnhof ist in Sicht, noch 5 Minuten, bis die Bahn fährt. Während ich mein Fahrrad anschließe, kommen mir Zweifel, ob ich wirklich so zur Arbeit sollte, was werden die Kollegen sagen? Aber ändern kann ich es nicht mehr, ich habe die letzte Brücke zurück zum alten Leben abgebrochen. Schnell zum Automaten, Geld rein, Ticket raus. Die Sonnenstrahlen bahnen sich einen Weg durch die Wolkendecke und treffen auf meine Haut. Überrascht schaue ich auf, mein Mut kehrt zurück. Die Bahn kommt. Ich steige ein. Neues Leben.
Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens. Ein Mädchen, welches davon träumte, eines Tages wie jedes andere Kind zu sein. Zu leben, zu lieben und zu lachen …
Doch am siebten Tag ihres Lebens traf sie ein fürchterlich grelles Licht und ein lautes Piepen, welches wie der Herzschlag ihrer Mutter immer hektischer und hektischer zu schlagen begann. Je schriller das Geräusch wurde und je schneller sich der Raum mit weiß bekleideten Menschen füllte, desto mehr versuchte das Mädchen zu begreifen, was ihr in jenem Moment widerfahren war. Jedoch vergebens. Noch bevor sie es sich vorstellen konnte, verstummte alles um sie herum, und es wurde zunehmend dunkel. Es war, als würde ihr Körper von einer Eiseskälte überzogen werden und wolle sie mit in den Abgrund ziehen. Wie ein Blitz schlug das Adrenalin in ihren Körper ein und ließ sie laut aufschreien. Nur ein Traum? …
Ihre Mutter eilte, so schnell sie konnte, in ihr Zimmer, zu ihrem Bett. „Was ist los?“, fragte sie ihre Tochter. „Es ist wieder passiert, Mama. Ich war wieder dort. Ich will nicht, dass es wieder passiert. Ich möchte doch noch nicht sterben!“, antwortete sie ihrer Mutter mit weinender Stimme. „Das musst du auch nicht“, erwiderte ihre Mutter und fügte hinzu: „Du brauchst keine Angst zu haben, die Ärzte haben uns versichert, dass so etwas nicht noch einmal passieren wird.“ „Aber was ist, wenn sie sich irren und es doch wieder passiert?“, schluchzte das Mädchen. Mit einer Umarmung versuchte die Mutter, das aufgebrachte Mädchen zu beruhigen, und versprach ihr, dass so etwas, wie sie schon einmal erleben musste, nie wieder vorkommen wird. Allerdings wusste ihre Mutter, dass sie ihr Versprechen womöglich nicht halten konnte, da sie den Gesundheitszustand ihrer Tochter kannte, sie wollte ihr jedoch die Angst ersparen und beschloss, es nicht weiter auszuführen. Nach einer Weile des Tröstens schlief sie wieder ein …
Als hätte es die Mutter geahnt, erfüllten sich ihre Befürchtungen. Vier Jahre nach dieser fürchterlichen Nacht war das Leben des Mädchens geprägt von täglichen Krankenhausbesuchen, starken Medikamenten und Dialysesitzungen. Der Albtraum wurde wahr …
So oft hatte man ihr schon gesagt, dass sie nie mehr normal leben könne, dass sie auf sich aufpassen müsse und einige Einschränkungen in Kauf nehmen solle. Die Ärzte sagten, es gebe keine Zukunft für sie, außer es geschehe ein Wunder. Die Angst und der enorme gesellschaftliche Druck, „perfekt“ sein zu müssen, ließen sie am Leben zweifeln. Sie war nicht da, wo sie sein möchte, sie hatte das Gefühl, woanders sein zu müssen, sie wünschte sich so sehr, einfach mit ihren Fingern schnipsen zu können, um an jenem Ort zu sein, der kein Gefängnis für sie sein würde. Dennoch wusste sie, dass sie auch dort das Gefühl von Angst verspüren würde. Angst davor, falsch zu sein, nicht geliebt zu werden, und Angst davor, nicht stark genug zu sein, um früher oder später ohnehin zu sterben. Das Leben hatte keinen Wert mehr und begann nutzlos zu sein. Sie hatte die traurige Vermutung, es wäre wohl für alle das Beste, dieses zu beenden. Also stand sie in der Nacht auf, holte sich die Schmerztabletten ihrer Eltern, legte sich in ihr Bett und schluckte sieben davon. Je eine für jeden Tag, den sie als Neugeborenes ohne Schmerzen verbringen durfte …
Nun lag sie auf ihrem Bett und dachte nach. Als ihr bewusst wurde, was sie da eben getan hatte, überwältigte sie eine Welle der Trauer. Sie konnte es nicht glauben, sie wollte es nicht glauben, dass es bereits Zeit für sie war, zu gehen. Sie wollte noch nicht gehen, doch wusste sie, dass es bereits zu spät war. Während die Tabletten ihre Wirkung zeigten, fiel das Mädchen in einen das Bewusstsein trübenden Zustand der Trance. Ihr Verstand fing an, sich von ihr abzuwenden. Alle schienen sich von ihr abzuwenden, und es waren Fragen über Fragen, die wie ein Orkan durch ihre Gedanken wüteten …
… „Es muss ein Missverständnis sein, jemand hat sich vertan“, versuchte das Mädchen zu glauben. „Irgendjemand, möchte sich nur einen Spaß erlauben, ein harmloser Scherz, welcher bald vorbei sein wird.“ „Ja, das muss es sein! Bloß ein kleiner Scherz“, stimmte sie zu. „Oder ist es etwa doch die Realität?“ „Hat man es auf mich abgesehen?“ „Bin ich es nicht wert zu leben?“ „Habe ich es selbst verschuldet?“ „Was ist da gerade passiert?“, „Was habe ich da gerade nur …“ Bevor sie die Frage beenden konnte, wurde ihr schwarz vor Augen, und während die Sekunden, Minuten, ja beinahe Stunden vergingen, spürte sie, wie ihr Körper immer schwerer wurde …
Niemand war da, der sie retten könnte, und es war auch niemand da, der ihr die Fragen beantworten würde. Das war der Moment, an dem sie feststellen musste, dass dort, wo sie sich hinbewegte, keiner sein wird, der auf sie warten würde. Alle Menschen, die sie liebte und die ihr Liebe schenkten, waren auf der anderen Seite, der Seite, der sie zuvor den Rücken zugewandt hatte. Diese erbitterte Einsamkeit bereitete dem Mädchen große Angst. War sie stark genug, den Kampf zurück zu gewinnen? Sie glaubte nicht …
Doch dann durchschaute sie eine Sache, die ihr wahrscheinlich das Leben rettete. Ihr wurde klar, dass Angst nicht real ist. Der einzige Ort, an dem die Angst existieren kann, ist in unserer Vorstellung von der Zukunft. Sie ist ein Produkt unserer eigenen Fantasie und lässt uns Dinge fürchten, die in der Gegenwart nicht existieren und vielleicht niemals existieren werden. Die Gefahr zu sterben ist sehr wohl real, aber Angst ist eine Entscheidung, der wir selbst entgegenstehen müssen. Sie wollte es versuchen, sie musste es für ihre Familie versuchen, und so nahm sie all ihre Kraft zusammen, stellte sich dem entgegen, was ihr Leben beenden sollte und riss sich aus dem Abgrund. Sie hatte es geschafft! Sie lebt …
Ein lautes Piepen ertönte und das Licht wurde wieder heller, doch diesmal war es anders als vor 14 Jahren. Das Piepen ertönte gleichmäßig und ruhig und das Licht schien sich in der Sonne zu spiegeln, es war warm und freundlich. Es herrschte eine friedliche und unschuldige Atmosphäre in dem Zimmer. Beim Umschauen entdeckte sie an der Bettkante eine sitzende Frau mit einem lächelnden Gesicht. Sie bewegte sich langsam zu ihr hin, beugte sich über das Mädchen und flüsterte ihr ins Ohr: „Du hast es geschafft, du bist wieder zurück.“ Es war die Mutter des Mädchens, die tagelang am Krankenbett des Mädchens saß und auf das Erwachen ihrer geliebten Tochter wartete. Noch nie zuvor freute sich das Mädchen so sehr, ihre Mutter zu sehen, wie in diesem Augenblick, denn das bedeutete, sie war doch nicht, wie befürchtet, alleine und würde es auch nie mehr sein. Das verstand sie jetzt, erwiderte das Lächeln ihrer Mutter und versprach ihr, dass so etwas nie wieder passieren würde …
Seit dem Erwachen des Mädchens sind weitere fünf Jahre vergangen. Nun war das kleine Mädchen 19 Jahre alt, lebte, liebte und lachte so, wie sie es sich immer erträumt hatte. Sie ist glücklich, hilft nun anderen Menschen mit ähnlichen Traumata und blickt der Zukunft neugierig ins Auge …
Es war da.
Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Manchmal, da ist es einfach da.
Beim Einatmen spüren wir es
Beim Ausatmen tut es dann weh.
Früher dachte ich immer nur, dass ich dieses Gefühl in mir trage, dass es kein anderer so empfindet wie ich. Aber wenn man älter wird, sieht man, dass es jeden begleitet. Dass das Gefühl noch stärker wird. Unzählige Gründe, warum es größer wird. Eigentlich ist es nichts, denn anfassen tun wir es nicht, also muss es auch nichts sein. Trotzdem ist es da. Und
Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Es ist nur ein Gefühl. In meiner Vorstellung. Ein schwarzer Punkt in meinem Herzen, der manchmal sehr drückt. Der mich fragen lässt, warum. Nach dem Sinn. Weshalb heute. Denn
Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Es ist ein Teil von mir. Ein Teil von uns. Über den wir nicht reden. Es ist der Grund, warum wir mutig sind. Der Grund, warum wir aufgeregt sind. Die erste Hürde zu unserer Freiheit. Es gibt uns das Gefühl es durchbrechen zu müssen. Doch
Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Es schenkt uns einen Grund mehr, zu sein. Mehr zu wollen. Denn das wollen wir nicht. Wir sind stärker. Schaffen es, mehr als nur das Gefühl zu sein.
Es tut noch immer weh.
Es geht auch nicht weg.
Es ist da.