• 20. Dezember 2022

Emotio­nale Werke beim haus­ei­genen Schreibwettbewerb

Emotio­nale Werke beim haus­ei­genen Schreibwettbewerb

Emotio­nale Werke beim haus­ei­genen Schreibwettbewerb 1024 538 Dr. Buhmann Schule & Akademie in Hannover

Sich seinen Ängsten zu stellen, erfor­dert Mut – über diese dann aber auch eine Geschichte auf Papier zu bringen, eine ganze Menge mehr. Genau das taten die Teil­neh­menden der Dr. Buhmann Schule & Akademie und schrieben sich mit einer Rekord­an­zahl am haus­ei­genen Schreib­wett­be­werb ein.

Das Licht des weih­nacht­li­chen Tannen­baum­schmucks verlieh der Preis­ver­lei­hung in der Cafe­teria der Prin­zen­straße 13 ein gemüt­li­ches Flair und ein beson­deres Ambi­ente. Gleich 17 Schü­le­rinnen und Schüler bezie­hungs­weise Studie­rende setzten sich mit den Themen Angst oder Dank­bar­keit ausein­ander und ließen ihre Werke anschlie­ßend von einer hoch­ka­rä­tigen Jury bewerten. Schul­lei­terin Chris­tina Gallus freute sich, im Komitee erneut Initia­torin Dr. Mari­anne Wurth, den ehema­ligen Kultur­re­dak­teur der Hanno­ver­schen Allge­meinen Zeitung Karl-Ludwig Baader sowie erst­mals Lehrerin Corinna Busch begrüßen zu dürfen. „Wir haben so viele Geschichten bekommen wie noch nie. Die Stücke waren bewe­gend, berüh­rend und sehr lesens­wert“, ist die Schul­lei­terin von den Werken des dies­jäh­rigen Schreib­wett­be­werbs voll­ends über­zeugt. Das Vertrauen, das von Schü­ler­seite entge­gen­ge­bracht wurde und das Ausleben einer teils verletz­baren Seite benö­tige jede Menge Courage und so war auch der allseits bekannte und bei Sport­lern eher verpönte Spruch: „Alle können sich wie Gewinner fühlen“ an dieser Stelle gold­richtig platziert.

Die meisten der Mitwir­kenden kamen aus den krea­ti­veren Vertie­fungs­rich­tungen und schrieben ihre Geschichten teils auf Englisch. Zum ersten Mal nahmen auch Studie­rende des Akade­mie­hauses am Schreib­wett­be­werb teil. Das Niveau der Geschichten war quali­tativ so hoch­wertig, dass die Silber- und Bron­ze­plätze gar doppelt besetzt wurden.

Bei einem Platz waren sich jedoch alle einig: Als Siegerin ging Jana Tabita Riehl hervor, die mit ihrer herz­er­grei­fenden Geschichte von einer Skifrei­zeit einen „Ausschnitt eines zerstörten Lebens“ emotional detail­liert porträ­tierte. Die Geschichte habe sie aus dem Impuls heraus geschrieben, erklärte die Preis­trä­gerin am Ende der Veran­stal­tung und las dem gespannten Publikum stolz ihren Gewin­ner­text vor. Auch in ihrer Frei­zeit schreibt die 19-Jährige gern – vor allem Gedichte faszi­nieren sie. Für das Preis­geld in Höhe von 200 Euro hat sie auch schon eine passende Verwen­dung gefunden und möchte davon einen Teil ihres Führer­scheins finanzieren.


11 Jahre. Skifrei­zeit. Steibis. Außen­sei­terin. Alleine.
Stille. Sitzen auf einem Hoch­bett. Stille.
Hekti­sches reden. Mitschü­lerin. Ein Tritt ins Gesicht.
Schock. Schmerzen. Flucht­drang. Fluchtversuch.
Sprung vom Bett. Aufge­halten. Würgende Hände um den Hals.
Angst.
Hekti­sches Stram­peln. Panik. Angst. Angst.
Plötz­liche Befreiung. Sturz auf den Boden.
Tunnel­blick. Verwirrt­heit. Fluchtdrang.
Fliehen. Rennen. Einfach weg.
Treppe runter. Um die Kurve. Damentoilette.
Mittel­ka­bine. Einschließen. Zusammenbrechen.
Angst.
Zittern. Weinen. Todeswunsch.
In der Ecke liegen. Klein. Ängst­lich. Unbemerkt.
Tür öffnet sich. Still bleiben. Mund zuhalten.
Angst.
Person geht. Unbe­merkt. Ängst­lich. Klein.
Stille. Zittern. Weinen. Todeswunsch.
Erneutes Türöffnen.
Angst.
Person geht. Erleich­te­rung. Zusammenkauern.
Lang­sames beru­higen. Gefühl­lo­sig­keit. Stille.
Ewig­keit. Stunden vergehen. Stille.
Tür öffnet sich. Mädchen Gerede. Diskussion.
Kabine wird aufge­bro­chen. Anstarren. Packen. Mit sich ziehen.
Angst.
Treppe rauf. Durch den Flur. Zurück ins Zimmer. Zurück aufs Hochbett.
Stille. Taub­heit. Leere.
Angst.

Ich war neun Jahre alt, als es passierte:
An jenem Tag wurde ich zu meinem Vater geschickt, während meine Mutter ins Kran­ken­haus kam.
Mama wusste schon, was passieren würde. Matthias wusste schon, was passieren würde. Sie wussten alle, was passieren würde.
Sie wussten, dass du diese Welt niemals sehen würdest. Dass du nie deine ersten Schritte machen würdest. Dass du nie deine ersten Worte sagen würdest.
Ich habe es damals nicht verstanden. Habe nicht verstanden, was passiert ist: Warum ich bei meinem Vater bleiben sollte? Warum du nicht nach Hause konntest?

Ich weiß nicht mehr viel von dieser Zeit, aber ich erin­nere mich noch genau an den Tag, als ich auch ins Kran­ken­haus durfte – zur Aussegnung.
Ich saß mit deinem Vater und Mama in einem weißen Zimmer. Du warst auch da. Es war das erste Mal, dass ich dich sehen durfte. Du sahst ganz anders aus, als ich dachte. Ganz anders, als ich es mir vorge­stellt hatte. Du sahst nicht richtig aus. Nicht so, wie es sein sollte. Eine Frau kam ins Zimmer. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte. Ich habe nur auf dich geachtet. Auch wenn ich oft an dir vorbei­schauen musste, weil dein Anblick nicht schön war.
Die Frau hat mir an diesem Tag einen Engel geschenkt. Ich habe ihn immer noch. Er steht auf meinem Schreib­tisch und passt auf mich auf. Ich wünschte, du hättest auch einen Engel gehabt, der auf dich aufpasst hätte. Viel­leicht hätten wir dann die Chance gehabt, uns kennenzulernen.

Ich habe Mama oft traurig gesehen in dieser Zeit. Sie hat oft geweint und ich wusste nie, wie ich ihr hätte helfen können. Ich war doch erst neun.

Wir haben dich alle sehr vermisst. Wir waren an all deinen Geburts­tagen bei dir und haben gefeiert. Haben dich gefeiert, weil du in unseren Herzen immer noch einen Platz hattest.

Heute feiern wir nicht mehr, aber wir denken immer noch an dich. Wir haben dich nicht vergessen. Ich habe dich nicht vergessen. Ich weiß noch, dass ich nicht weinen konnte in dieser Zeit. Dass ich nicht um dich weinen konnte. Ich weiß noch, dass ich mich immer fragte, warum? Warum kann ich nicht weinen? Warum kommen keine Tränen?

Heute geht es. Heute kann ich um dich weinen. Heute kann ich um den Bruder weinen, den ich nie haben durfte. Obwohl ich ihn mir immer so sehr gewünscht hatte.

Ich war elf Jahre alt, als es passiert: Als meine Mama und euer Vater mir von euch erzählten.
Ich habe mich so sehr gefreut. Habe mich so sehr auf euch gefreut. Ich konnte es kaum erwarten.
Aber ich war auch vorsichtig. Ich wollte nicht schon wieder denselben Schmerz spüren. Wollte nicht schon wieder umsonst hoffen. Wollte Mama nicht schon wieder weinen sehen.

Ich erin­nere mich noch genau, wie wir in dieser Zeit, damals in der sechsten Klasse im Reli­gi­ons­un­ter­richt über Furcht gespro­chen haben. Während alle anderen sagten, sie fürchten sich am meisten vor Spinnen oder schlechten Noten, erzählte ich, ich fürchte mich am meisten davor, euch zu verlieren.

Ich weiß noch, wie mich nie jemand verstanden hat: Alle sagten immer, ich würde es hassen, meinen Platz zu teilen. Dass ich das Schreien hassen würde. Dass ich es hassen würde, keine Aufmerk­sam­keit mehr zu bekommen. Dass ich das Aufpassen hassen würde. Dabei wollte ich euch bloß gesund und glück­lich in Mamas Armen sehen.

Ich weiß nicht mehr viel von dieser Zeit, aber ich erin­nere mich noch genau an den Tag, als ich auch ins Kran­ken­haus durfte. Ich kam in Mamas Zimmer und ihr wart auch da. Es war das erste Mal, dass ich euch sehen durfte. Ihr saht genauso aus, wie ich es mir vorge­stellt hatte. Ihr saht richtig aus. So, wie es sein sollte.
Ich weiß noch genau, wie ich auf dem Weg nach Hause zwischen euch saß.

Jeder von euch hatte einen meiner Finger im Mund. Ihr habt so fried­lich dagelegen.

Und da wusste ich, ich brauche keine Angst mehr zu haben.

Ich sage es nicht gern zu dir, denn du bist mein ältester Freund, doch möchte ich, dass du meinen Wunsch endlich erhörst. Seit Tag 1 warst du stets an meiner Seite. Du hieltst mich fest im Arm, wenn meine Welt in Stücken lag, und auch bei den schönsten Momenten fühlte ich deine kühle Anwe­sen­heit im Herz­schlag. Täglich wache ich neben dir auf, meist bis du da noch nicht ganz wach, aber wenn wir auf dem Weg zur Schule sind, flüs­terst du mir schon leise ins Ohr: ,,Pass auf, was du machst”.

Ange­kommen, wirst du wacher, du streckst deine gewal­tigen Klauen aus und zerrst langsam an meinen Körper. Nichts Neues für mich, denn deine Narben trage ich schon immer. Und jeder sieht sie sofort, wenn er versucht mit mir zu spre­chen. ,,Gefahr’’ sind deine warnenden Worte und ich verfalle in deine Fluchtorte. Denn dort bautest du mir ein Wolken­bett und lagst mir schwer auf meinem erstarrten Skelett. Kein einziges Wort bringe ich in Frust aus mir heraus.

Im Unter­richt bist du wie ein unru­higes Biest. Wenn der Lehrer mich aufruft, stichst du mich geschwind und es folgt ein kalter Schauer, der über meinen Rücken rinnt.
“Sprich, Sprich doch, du lausige Seele” und du schnürst mir zu die Kehle. Still wird der Raum und die wartenden Blicke sind auf mich gerichtet. Zittern? Nein, nie sah ich mich zittern, so trich­ter­test du es mir doch von Kind­heit an ein, dass dies eine normale Reak­tion sei. Keiner meiner Gedanken bringt eine Lösung ein und nach kurzer Zeit lässt der Lehrer es sein. Er schweift von uns ab, lässt mich in Ruh. Du löst deinen Griff und der Schmerz enthüllt ein betäu­bendes Gift.

Manch einer beschreibt dich als süß, manch einer als gut erzogen, doch du bist für mich nichts weiteres mehr als eine Klette. Denn durch dich erlebte ich Einsam­keit, durch dich Abnei­gung. So viele lernten mich nie kennen, weil du es verwehr­test. So gern ich damals deine Hilfe nahm, so bin ich jetzt abhängig von ihr. Egal was ich tue, wie viel ich arbeite, wie viele Medi­ka­mente ich schlucke, du bist und bleibst an deinem Platz, tief in meinem Kopf hast du es dir gemüt­lich gemacht.

Ich mache Schluss. Ich beende das zwischen uns. Ich will dich nicht mehr in mir tragen und täglich deine Wunden haben. Ich möchte endlich frei von dir sein. Ich möchte ich selbst sein. Angst­ge­löst durch mein Leben gehen und nie wieder deine Spuren sehen.

Traum, doch nie die Wirklichkeit.

Hallo du, ich bin Thomas. Ich möchte etwas loswerden. Etwas, von dem ich nicht weiß, ob es mich je loslassen wird. Aber es würde mich freuen, meine Geschichte mit jemandem zu teilen.

Als ich klein war, viel­leicht war ich zwölf, besuchte ich meine Tante in ihrer Lodge in Black­wood Pines während meiner Winter­fe­rien. Ich kannte sie nicht gut, nur aus Foto­alben und Erzäh­lungen. Alles, was ich über sie selbst wusste, war, dass sie alles andere als gesprä­chig sei.

Bei Tante Beth sollte ich kräftig mit anpa­cken. Schnee schippen, Holz holen und Einkäufe erle­digen. Aber es gefiel mir. Die kalte Luft in meiner Lunge und diese wunder­schöne Landschaft.

Oft sind wir die Wander­wege abge­gangen. Wir haben dabei kein Wort gespro­chen, sondern nur die Land­schaft genossen. Es hatte etwas so Befrei­endes, so isoliert in einem Wald auf einem verschneiten Berg zu sein. Ich konnte spüren, dass Tante Beth eine verwandte Seele war.

Eines Abends, es war Voll­mond, wollte ich unbe­dingt nach draußen und einen Spazier­gang machen. Meine Tante sträubte sich etwas dagegen, so spät noch nach draußen zu gehen, aber nach einer Weile hatte ich sie dann doch über­zeugt. Ich denke, sie wollte den Mond insge­heim genauso gerne durch die Tannen­zweige sehen wie ich. Als wir wieder auf der Veranda ankamen, blieb ich stehen und blickte noch ein letztes Mal auf den hell strah­lenden Mond über mir. Im Augen­winkel sah ich einen Schatten durch die Bäume huschen. Er blieb neben einem Felsen stehen. Ich konnte nur schwer die Form im dunklen Dickicht ausma­chen. Vier lange Beine, eine Schnauze und ein riesiges Geweih. Ich hab darauf gezeigt und flüs­terte Tante Beth zu „schau Tante Beth, ein Hirsch“. Sie drehte sich langsam um, sah wie in Zeit­lupe in die Rich­tung, in die meine kleine Kinder­hand zeigte, und erstarrte. Wir alle erstarrten für einen Augen­blick. Ich, meine Tante und der Schatten des Tieres. Es war so still, ich dachte, ich könnte ein rauchiges Atmen von dem Felsen aus hören. „Das ist kein Hirsch“, unter­brach Tante Beth die tote Stille ganz leise flüs­ternd. Sie drehte sich langsam um und ging in Rich­tung Tür. Ich konnte diese Aussage in meinem Kopf gar nicht fassen. Was meinte sie damit? Aber bevor ich sie fragen konnte, war sie schon im Gebäude, und ich beließ es schließ­lich dabei, da Tante Beth nicht gern ausschweift. Ich bin ihr also einfach gefolgt und habe nichts mehr gesagt. Als ich mir einen Stuhl nahm, um aus dem Küchen­fenster in Rich­tung des Schat­tens zu sehen, war er schon in den Wald verschwunden.

Irgend­wann bin ich mitten in dieser Nacht aufge­wacht. Ich ging also in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Auf dem Weg zurück ins Bett sah ich meine Tante im Wohn­zimmer auf ihrem Schau­kel­stuhl mit einer ihrer unglaub­lich hellen Taschen­lampen. Sie leuch­tete durch das offene Balkon­fenster das Wald­di­ckicht ab. Ich war schon wieder so verwirrt davon, aber habe mich dann auch nicht getraut, sie anzusprechen.

Sag mal, ist dir das nicht zu nervig mir zuzuhören?

Nein? Bist du dir sicher?
Also gut, jeden­falls musste Beth eine Woche später etwas auslie­fern und würde erst am nächsten Morgen wieder­kommen. Ich durfte nicht mit, also musste ich diese Nacht alleine auskommen. Es war viel­leicht 22 oder 23 Uhr, da sah ich immer noch allein fern.

Zwischen den Geräu­schen des Windes und des Fern­se­hers hörte ich ein anderes Geräusch, wurde neugierig und stellte den Fern­seher leiser, um zu horchen. Ich ging zur Hintertür, zog meine Sachen an und trat vors Haus. Als ich auch nur einen Schritt über die Türschwelle machte, wurde es mir flau im Magen. Ich kann es nicht in Worte fassen: dieses Gefühl, als ich da stand und der eiskalte Wind mir den Schnee ins Gesicht blies. Ich wusste irgend­etwas stimmte hier nicht.

Ich hörte, wie die Krähen schreien. Aber so aufge­bracht und irgendwie anders. Die Schreie der Krähen schienen alle von einem Punkt aus zu kommen und als ich mich suchend umsah, stoppten die Rufe auf einen Schlag und es war still. Toten­still. Nur der Wind heulte weiter vor sich hin. Ich stand still, wie erstarrt und schaute in den düsteren Wald. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass vermut­lich gleich ein Bär oder ein Wolf auf mich zuge­stürmt kommen würde.

Aber stattdessen…Eine rauchige, krat­zige Stimme aus dem Dunkel zwischen den Tannen rief meinen Namen.

„Thhhooooooo­maaaaaaass….“

Die Stimme war tief und langsam und kratzte bei jeder Silbe, die sie aussprach. Der Klang mischte sich in den des Windes und hörte sich so an wie ein heulendes Echo.
Nach einem Moment erwachte ich aus meiner Starre und schlüpfte so schnell wie möglich durch den Spalt der Hintertür und verschloss diese zweimal, bevor ich durchs Haus rannte und alle Riegel vor die Fenster schob. Ich löschte noch alle Lichter und verkroch mich aufs Sofa vor dem Fern­seher. Ich verkrampfte mich so sehr mit tausenden Gedanken, die durch meinen Kopf rasten, und Tränen, die mir die Wange runterliefen.

Ein paar Mal hörte ich diese gespens­ti­sche Stimme noch ums Haus herum­streifen, wie sie immer wieder meinen Namen rief.

„Thhooooooooo­maaaass….“

Da saß ich, zitterte und verkrampfte mich so sehr, dass meine Nägel die Haut meiner Ober­schenkel verletzten, die ich so fest umklam­merte. Nach einer Weile hörte ich nichts mehr. Toten­stille. Für viele, viele Minuten. Ich starrte die ganze Zeit die Uhr an und bin jedes Mal, wenn der Minu­ten­zeiger umge­sprungen ist, erschrocken.

So langsam fragte ich mich, ob ich mir diese fürch­ter­liche Stimme nur einge­bildet hatte.

Ich hörte ein dumpfes Geräusch. Es schien von dem Küchen­fenster in Rich­tung des Felsens zu kommen. Es hörte sich an, als wäre es etwas Natür­li­ches, wie ein klop­fender Ast gegen ein Fenster. Aber so hörten sich keine Äste an. Ich weiß nicht, warum es mir in den Sinn kam, aber ich dachte, es hörte sich an, wie wenn ein Geweih aus Versehen am Fens­ter­glas streift.

Ich hielt den Atem an.

Wieder diese Stimme.

„Es ist so kalt draußen, Thomas, willst du mich nicht reinlassen?“

Ich hielt den Atem weiter an.

Die Stimme war so nah, ich konnte hören, dass ihr Tonfall irgendwie unna­tür­lich war. Es schien so, als würden Laut­spre­cher die rich­tigen Laute und Worte ertönen lassen, aber ohne die Bedeu­tung zu kennen und diese richtig zu betonen.

Ich saß immer noch zitternd wie Espen­laub auf dem Sofa und versuchte mich mit aller Kraft unsichtbar zu machen. Doch irgend­etwas Unna­tür­li­ches in mir drängte mich hin zum Fenster. Unkon­trol­liert drehte ich meinen Kopf in Rich­tung Küchenfenster.

Da, wo der Mond ins Fenster geschienen hätte, war nichts. Eine schwarze Silhou­ette blockierte die Sicht aus dem Fenster.

Ich saß im Dunkeln und starrte auf das Fenster. Meine Augen waren vom Licht des Fern­se­hers noch nicht an die Dunkel­heit gewöhnt, und ich musste meine Augen anstrengen, um die dunkle Silhou­ette genauer vom schwarzen Himmel trennen zu können. Alles, was ich bis hierhin ausma­chen konnte, war, dass dieses Etwas krumm auf allen Vieren stand und sich zu bücken schien. Das, was unver­kennbar war, war sein defor­miertes Geweih.
So langsam ließ mich das kümmer­liche blau flackernde Licht des Fern­se­hers hinter mir das Gesicht des Wesens erkennen, wie es seine feuchte Nase gegen die Fens­ter­scheibe presste. Was ich noch deut­lich vor Augen habe, ist seine mensch­liche Haut mit etwas Fell daran, welche viel zu eng und straff über seinen hirsch­ähn­li­chen Schädel gespannt ist. Wie es mich ansah… Ich hörte, wie draußen Tropfen auf die Fens­ter­bank platschten. Sie schienen wohl aus seinem Maul zu kommen.

Alles, was danach geschah, weiß ich nicht. Ich weiß nur noch, dass mir so übel wie noch nie war. Mein Zittern wurde schlimmer, und das Flim­mern vor meinen Augen wurde immer schlimmer. Das letzte, was ich wahr­nahm, war ein Schlag auf Holz. Das muss wohl mein Körper gewesen sein, der vom Sofa auf den Boden geknallt ist.

Ich bin erst wieder am Morgen aufge­wacht, mein Kopf tat weh und ich war froh, dass ich scheinbar noch am Leben war. Ich beschloss, die Ereig­nisse der letzten Nacht fürs Erste für mich zu behalten.

Ich hatte nur noch wenige Tage bei Tante Beth. Seitdem bin ich nicht mehr von ihrer Seite gewi­chen, und ich war heil­froh, dass sie nicht vorschlug, im Wald spazieren zu gehen.
Letzt­end­lich habe ich ihr nie von dem, was ich gehört und gesehen habe, erzählt. Einer­seits, weil ich davon über­zeugt war, dass sie es mir nicht glauben würde, und ande­rer­seits, weil ich es mir nichtmal selbst glauben konnte.

Ich habe sie seither nie wieder besucht. Je älter ich wurde, desto besser klappte es, die Ereig­nisse, die bei Tante Beth geschehen sind, zu verdrängen und zu verleugnen. Bis vor ein paar Jahren, als alles zurückschwappte.
Tante Beth war verschwunden.

Als ihr Fehlen auffiel und man die Sache unter­suchte, fand man keine Auffäl­lig­keiten, außer ihrer geöff­neten Vordertür. Was aber niemandem außer mir Sorge berei­tete, waren die großen zwei­paa­rigen Hufspuren, die zur Lodge und in den Wald führten.

Bis heute plagen mich Albträume von dem zwei­bei­nigen Wesen, welches meine Tante mit Sicher­heit zwischen die Tannen entführt hat.

Ich saß in meinem Wohn­zimmer, als ich plötz­lich eine Welle der Angst über mich herein­bre­chen spürte. Ich konnte es nicht erklären, aber ich hatte das Gefühl, dass etwas Schreck­li­ches passieren würde. Mein Herz begann zu rasen und ich wurde kurz­atmig. Ich versuchte, mich zu beru­higen, aber es war, als ob mein Körper mich verraten würde. Je mehr ich versuchte, mich zu entspannen, desto ängst­li­cher wurde ich. Ich hatte das Gefühl, dass ich eine Panik­at­tacke bekommen würde. Ich stand auf und versuchte im Zimmer auf und abzu­gehen, aber dadurch wurde mir nur noch schwind­liger und unsi­cherer. Ich setzte mich wieder hin, legte den Kopf zwischen die Knie und atmete tief durch. Langsam verflüch­tigte sich die Angst und ich konnte mich beru­higen. Dennoch war ich erschüt­tert und fühlte mich für den Rest des Tages unruhig.

Erst später wurde mir klar, dass heute der erste Schultag war. Ich hatte mich so sehr auf den Beginn der Schule gefreut, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass der Tag gekommen war. Ich versuchte mir einzu­reden, dass es keinen Grund zur Sorge gab, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich versuchte, mich auf die posi­tiven Aspekte des Schul­an­fangs zu konzen­trieren, aber meine Gedanken kreisten immer wieder um all die mögli­chen Dinge, die schief gehen könnten. Ich war so sehr mit meinen Ängsten beschäf­tigt, dass ich morgens nicht einmal meinen Wecker hörte. Ich wachte mit einem Schreck auf und merkte, dass ich an meinem ersten Schultag zu spät kommen würde.

Ich zog mich schnell an, schnappte meine Schul­sa­chen und rannte zur Tür hinaus. Ich spürte, wie mein Herz in meiner Brust pochte, als ich das Gebäude betrat. Ich war von Fremden umgeben, und ich hatte das Gefühl, dass mich jeder ansah. Ich spürte, wie die Angst in mir aufstieg, aber ich versuchte, sie zu verdrängen. Ich fand den Weg zu meiner ersten Unter­richts­stunde und setzte mich hin. Ich spürte, wie alle mich ansahen, und wollte am liebsten in meinem Sitz versinken und verschwinden. Die Lehrerin begann mit der Anwe­sen­heits­liste und ich spürte, wie meine Angst mit jedem Namen, den sie aufrief, stieg. Als sie bei meinem Namen ange­langt war, konnte ich kaum eine Antwort heraus­quet­schen. Ich war so verstei­nert, dass ich mich kaum bewegen konnte.

Die Unter­richts­stunde schien sich ewig hinzu­ziehen. Ich war so aufge­regt, dass ich mich nicht auf das konzen­trieren konnte, was der Lehrer sagte. Ich spürte, wie sich der Schweiß auf meiner Stirn bildete und meine Hände zitterten. Ich versuchte, tief durch­zu­atmen, um mich zu beru­higen, aber es schien nicht zu helfen. Ich hatte das Gefühl ich würde eine Panik­at­tacke bekommen. Schließ­lich läutete es, und ich konnte aufstehen und das Klas­sen­zimmer verlassen. Ich ging schnell zu meiner nächsten Klasse, aber ich spürte, wie die Angst immer noch durch meinen Körper strömte. Ich war so aufge­wühlt, dass ich mich für den Rest des Tages kaum noch auf etwas anderes konzen­trieren konnte. Die einzige Konstante war die Uhr in jenem Klas­sen­zimmer, die mit jedem Blick lang­samer wurde. Ich war erleich­tert, als die Schluss­glocke läutete und ich nach Hause gehen konnte.

Als ich durch die Tür trat sah ich in die besorgten Gesichter meiner Eltern. Sie merkten, dass etwas nicht stimmte, und fragten mich was passiert sei. Ich versuchte das Erlebnis herun­ter­zu­spielen, aber ich merkte, dass sie sahen, wie aufge­wühlt ich war. Wir spra­chen eine Weile über meine Angst und wie ich mich fühlte. Sie versi­cherten mir, dass alles besser werden würde und dass ich mich an die Schule gewöhnen würde. Sie sagten mir, dass sie für mich da sein würden, wenn ich jemals reden wollte.

Mit der Zeit ging es mir besser, und die Angst begann sich zu verflüch­tigen. Am nächsten Tag konnte ich wieder zur Schule gehen, und ich begann mich langsam an die neue Umge­bung zu gewöhnen. Die Erfah­rung hat mir jedoch das Gefühl gegeben, dass ich mir meiner Ängste und der mögli­chen Auslöser bewusster bin. Ich fing an meine Ängste proak­tiver zu bewäl­tigen, und ich begann, mehr Selbst­ver­trauen zu haben. Mir wurde klar, dass ich alles durch­stehen kann, solange ich die Unter­stüt­zung meiner Familie habe.

In Harry Potter und der Gefan­gene von Azkaban, während des Unter­richts Vertei­di­gung gegen die dunklen Künste, ist eines der inter­es­san­testen magi­schen Wesen des Zauber­er­uni­ver­sums zu sehen: Der Irrwicht. Gut, das stimmt nicht wirk­lich, zu sehen ist nur die Form, die das Wesen für jeden Schüler, der sich ihm gegen­über­stellt, auswählt. Es stellt die größte Angst seines Gegen­übers dar, um ihn zu verwirren und aus der Fassung zu bringen. Jeder Harry-Potter-Fan, der diese Szene gelesen oder im Film gesehen hat, stellte sich direkt die Frage: Was würde das Wesen bei mir für eine Gestalt annehmen? Dunkel­heit? Feuer? Meine Familie und Freunde, wie sie vor mir liegen und ich hilflos dabei zusehen muss, wie ihnen etwas geschieht?

Jeder hat vor so vielen Dingen Angst. Nicht die Art von Angst, bei der man einen Kloß im Hals spürt, das Adre­nalin in die Adern schießt und der Körper sich darauf vorbe­reitet, zu rennen oder anzu­greifen. Sondern die Art von Angst, die einen nachts wach­hält. Die dich auffrisst, je länger du darüber nach­denkst. Viel­leicht musst du weinen oder dich über­geben nach einiger Zeit, doch das Gefühl bleibt. Diese Angst ist um Welten schlimmer. Denn wie wird man sie los? Durch Alkohol und Partys? Harte Arbeit, bis man zu erschöpft ist, um irgendwas zu fühlen?

Ich wünschte, ich wüsste die Antwort auf so eine denkbar simple Frage.

Wie würde das Wesen aus Harry Potter also meine größte Angst darstellen? Die Angst davor, alleine zu sein? Denn bei der Angst davor, allein zu sein, gibt es Unter­schiede. Natür­lich ist es eine furcht­bare Vorstel­lung, die eigene Familie oder die engsten Freunde durch Unfälle oder Krank­heiten für immer zu verlieren, doch mir macht etwas anderes mehr Angst als das.

Der Gedanke, der mich näch­te­lang wach­hält, ist der, dass Leute, die mir wichtig sind, mich nicht sehen wollen. Sie haben sich von mir abge­wandt, meis­tens ohne einen bestimmten Grund, manchmal auch mit einem, der etwas mit mir zu tun hat. Ich habe an einem bestimmten Punkt in unserer Bezie­hung einen Fehler gemacht. Und die Konse­quenzen sind, dass ich igno­riert werde. Ausge­stoßen, wie eine Fremde behan­delt, ohne Erklä­rung oder Abschied. Das sind die Stunden, in denen man andau­ernd sein Handy anstarrt und auf etwas wartet. Irgend­eine Nach­richt, ein Anruf oder ein Zeichen, dass jemand Inter­esse an mir hegt.

Es gibt nichts Schlim­meres als das.

Du warst glück­lich, du hattest alles, was du je woll­test: Menschen um dich, mit denen du dich verstehst und mit denen du dich zuhause fühlst. Doch das alles ist verschwunden. Und warum? Wegen etwas, was du getan hast. Es muss noch nicht mal etwas Schlimmes sein; ein Umzug, ein Schul­wechsel, ein Kuss. Eine winzig kleine Sache und eine Freund­schaft oder Bezie­hung ist kaputt. Mona­te­langes Kennen­lernen, gemein­sames Lachen und Gespräche, Geheim­nisse, die einander anver­traut wurden, all das hat plötz­lich keine Bedeu­tung mehr. Es ist, als wurde man verstoßen. Ersetzt. Ich habe das Gefühl, ich bin unwichtig, unge­wollt, allein.

Das Ekel­haf­teste an dieser Angst ist, dass sie immer da ist. Ich habe auch Angst vor der Dunkel­heit, doch ist es immer Nacht? Nein. Ist es im Keller immer dunkel? Nein, man macht einfach das Licht an. Doch bei Freunden und Familie kann ich kein Licht anma­chen. Ich versuche so sehr, dass Menschen mich mögen und ich mich selbst dabei nicht verliere, dass es mich anstrengt. Ich bin so müde, so müde von diesem ganzen Versu­chen und Nach­denken, ob alles, was ich tue, Konse­quenzen haben könnte.

Es wird gesagt, man soll sich selbst treu sein, sich nicht verstellen und auch alleine mit sich selbst zufrieden sein. Doch um glück­lich zu sein, will ich anderen wichtig sein. Das ist alles was ich will. Also ist es doch logisch, dass meine größte Angst das Gegen­teil davon ist. Wie würde der Irrwicht bei mir aussehen? Es zeigt, wovor ich mich am meisten fürchte, und wahr­schein­lich würde es die Gestalt der wich­tigsten Personen in meinem Leben annehmen. Irgendwie ironisch – oder?

Schon wieder liege ich hier, an einem Ort, der eigent­lich mit Entspan­nung und Sicher­heit verbunden sein sollte. Ich kralle mich in meine Decke und warte darauf, dass es endlich vorbei ist. Er steht in der hintersten Ecke meines Zimmers. Direkt neben meinem Schreib­tisch. Dort steht er immer, jede Nacht. Er steht dort und starrt mich aus seinen leuch­tend roten Augen an und weckt damit Erin­ne­rungen, die ich tief in mir vergraben habe. Erin­ne­rungen, die ich lieber nicht noch einmal hervor­holen will. Ich kenne ihn mitt­ler­weile, er ist nicht das erste Mal hier. Seine furcht­lose und selbst­si­chere Ausstrah­lung lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Er ist sich darüber bewusst, was für eine Angst er mir macht. Und er genießt es, genießt es, mir Angst zu machen und meine Nächte zur schlimmsten Zeit des Tages zu machen. Es fühlt sich an wie ein Albtraum, aus dem man nicht aufwa­chen kann, aber es passiert wirk­lich. Meine Hände zittern und mein Herz schlägt, als würde es mir gleich aus der Brust springen. Diese Angst zerfrisst mich von innen und zerrt an mir, als würde sie mich zerreißen. Als würde sie mich komplett einnehmen und mit in den Abgrund stürzen wollen. Schon oft habe ich mich gefragt, warum er da ist. Warum tut er mir sowas an? Geschieht mir dies zurecht? Ich bin kein schlechter Mensch, das weiß ich. Jedoch habe ich die eine oder andere Tat voll­bracht, die nicht mehr mit dem Menschen über­ein­stimmt, der ich heute bin. Aber hat nicht jeder einen Teil der Vergan­gen­heit, der dunkel ist? Der einem weiß macht, wie man nie wieder sein will? Deswegen frage ich mich viel zu oft, warum ich? Ich traue mich langsam, mich vorsichtig in der Dunkel­heit umzu­sehen, nichts. Von ihm ist nichts mehr übrig. Die leuch­tend roten Augen sind wie verschluckt von dem Schwarz der Dunkel­heit. Er lässt mich mit den Gedanken und der Angst allein zurück. Und jede Nacht habe ich Angst, dass er wieder auf mich wartet.

Von Tag zu Tag steigt in mir der Verdacht,
es gibt zwei von mir, doch nur einer ist hier
Deine Stimme ist mir so nah und doch so fern
Sprichst du zu mir, aber ich nicht zu dir

Wohin ich auch geh, du folgst meiner Spur, doch warte ich nicht ab, bis du mich fasst. Das Licht in mir erlöschst du nicht, nicht wenn du vorher in mir zerbrichst.

Ich bin deine Schöp­fung, dein Kopf und dein Geist
Das Böse in mir, ist auch ein Teil von dir
Denn du bist ich und ich bin du
Das Eben­bild deiner selbst, in das du verfällst
Habe keine Angst, sei nicht so stur. Lass dich fallen und versinke in den Klang meiner Wünsche. Durch die Dunkel­heit, wohin es geht. An den Ort, wo die Ruhe uns herbeisehnt.

Ich höre es wieder, was soll ich nur tun
Der Raum, so fürch­ter­lich kühl
Ich nehme sie und schlucke sie runter
Bunte Farben füllen den Kummer

Leise ist es geworden, doch deine Präsenz erklingt aggres­siver. Von all meinen Schöp­fungen warst du einst mir lieber. Schuld ist es meine, was habe ich getan. Ledig­lich geboren damit und nun eine große Qual.

Manchmal sehe ich ein Gesicht in der Menge, ein Gesicht, welches mir ach so bekannt vorkommt, so vertraut. Das Gesicht von jemandem, den ich schon lange verloren habe. Jemand, dessen Name ich schon lange vergessen habe. Doch schaue ich erneut hin, ist das Gesicht verschwunden. Ein Trick der Gedanken, erschaffen aus der Hoff­nung, die Person wiederzusehen.

Doch die Gesichter, die Erin­ne­rungen bleiben mir nicht. Eines Tages verblassen sie, bis ich nicht mehr weiß, welche Farbe ihre Augen haben, wie ihr Lächeln aussieht, wie sich ihr Lachen, ihre Stimme anhört, welche Klei­dung sie gerne tragen, was ihre Lieb­lings­farbe ist. So viel geht verloren. Am Ende bleibt nur ein Gefühl, eine Leere, als würde ein kleiner Teil von mir fehlen. Ein Teil von mir für immer verloren.

Bei jeder neuen Person, jedem Abschied habe ich Angst, dass es wieder so endet, dass noch jemand Wich­tiges und Vertrautes für immer verschwindet. Dass wieder nur ein Gesicht, Erin­ne­rungen und dann Leere bleiben.

Ich frage mich, ob es das alles wert ist? Ob eine Person, die nur einen Teil meines Lebens da ist, den Schmerz und Verlust am Ende ausgleicht. Ich frage mich, ob es immer so sein wird, ob jede mich nur für einen kleinen Teil meines Lebens begleitet, um mich dann zu verlassen. Ich frage mich, warum, egal was ich mache, jeder geht. Was mache ich falsch? Warum bleibt niemand?

„Piep piep piep“ – ich werde aus meinen Träumen gerissen, meine Hand fährt langsam zum Telefon, und ich drücke einen Knopf an der Seite. Ruhe. Der Regen pras­selt unauf­hör­lich gegen mein Fenster. Seit Tagen regnet es schon, und der Wetter­be­richt gibt leider keine Hoff­nung, dass es heute anders sein wird. Ich erhebe mich langsam aus meinem Bett und schlurfe Rich­tung Bade­zimmer. Ich über­lege, welche Perücke ich anziehe. Heute werde ich lange blonde Haare haben, Aufre­gung und Nervo­sität machen sich in mir breit. Warum muss es heute so stark regnen, wenn ich nach zwei Wochen wieder zur Arbeit gehe? *Piep piep piep* – Knopf gedrückt. Ich muss mich beeilen. Vor meinem Schrank stehe ich verloren, was soll ich anziehen? Ich nehme ein hübsches Top, das ich vorher nie zur Arbeit anhatte. Es spannt, ich brauche unbe­dingt neue Ober­teile. In der Küche wartet auf mich ein kläg­li­cher Rest Brat­kar­tof­feln, den ich schnell vertilge. Schuhe, welche zieh ich an? Die neuen oder doch die alten? Mein Krib­beln im Bauch wird stärker beim Anblick der neuen Schuhe, und ich entscheide mich für die neuen. Schnell packe ich noch mein Buch „Der Sand­mann“ für die Bahn ein und meine Trink­fla­sche. Auf dem Weg Rich­tung Keller merke ich, dass das Fahr­rad­fahren heute eine Heraus­for­de­rung sein wird. Der Regen pras­selt auf meine Regen­jacke, der Bahnhof ist in Sicht, noch 5 Minuten, bis die Bahn fährt. Während ich mein Fahrrad anschließe, kommen mir Zweifel, ob ich wirk­lich so zur Arbeit sollte, was werden die Kollegen sagen? Aber ändern kann ich es nicht mehr, ich habe die letzte Brücke zurück zum alten Leben abge­bro­chen. Schnell zum Auto­maten, Geld rein, Ticket raus. Die Sonnen­strahlen bahnen sich einen Weg durch die Wolken­decke und treffen auf meine Haut. Über­rascht schaue ich auf, mein Mut kehrt zurück. Die Bahn kommt. Ich steige ein. Neues Leben.

Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens. Ein Mädchen, welches davon träumte, eines Tages wie jedes andere Kind zu sein. Zu leben, zu lieben und zu lachen …

Doch am siebten Tag ihres Lebens traf sie ein fürch­ter­lich grelles Licht und ein lautes Piepen, welches wie der Herz­schlag ihrer Mutter immer hekti­scher und hekti­scher zu schlagen begann. Je schriller das Geräusch wurde und je schneller sich der Raum mit weiß beklei­deten Menschen füllte, desto mehr versuchte das Mädchen zu begreifen, was ihr in jenem Moment wider­fahren war. Jedoch verge­bens. Noch bevor sie es sich vorstellen konnte, verstummte alles um sie herum, und es wurde zuneh­mend dunkel. Es war, als würde ihr Körper von einer Eises­kälte über­zogen werden und wolle sie mit in den Abgrund ziehen. Wie ein Blitz schlug das Adre­nalin in ihren Körper ein und ließ sie laut aufschreien. Nur ein Traum? …

Ihre Mutter eilte, so schnell sie konnte, in ihr Zimmer, zu ihrem Bett. „Was ist los?“, fragte sie ihre Tochter. „Es ist wieder passiert, Mama. Ich war wieder dort. Ich will nicht, dass es wieder passiert. Ich möchte doch noch nicht sterben!“, antwor­tete sie ihrer Mutter mit weinender Stimme. „Das musst du auch nicht“, erwi­derte ihre Mutter und fügte hinzu: „Du brauchst keine Angst zu haben, die Ärzte haben uns versi­chert, dass so etwas nicht noch einmal passieren wird.“ „Aber was ist, wenn sie sich irren und es doch wieder passiert?“, schluchzte das Mädchen. Mit einer Umar­mung versuchte die Mutter, das aufge­brachte Mädchen zu beru­higen, und versprach ihr, dass so etwas, wie sie schon einmal erleben musste, nie wieder vorkommen wird. Aller­dings wusste ihre Mutter, dass sie ihr Verspre­chen womög­lich nicht halten konnte, da sie den Gesund­heits­zu­stand ihrer Tochter kannte, sie wollte ihr jedoch die Angst ersparen und beschloss, es nicht weiter auszu­führen. Nach einer Weile des Trös­tens schlief sie wieder ein …

Als hätte es die Mutter geahnt, erfüllten sich ihre Befürch­tungen. Vier Jahre nach dieser fürch­ter­li­chen Nacht war das Leben des Mädchens geprägt von tägli­chen Kran­ken­haus­be­su­chen, starken Medi­ka­menten und Dialy­se­sit­zungen. Der Albtraum wurde wahr …

So oft hatte man ihr schon gesagt, dass sie nie mehr normal leben könne, dass sie auf sich aufpassen müsse und einige Einschrän­kungen in Kauf nehmen solle. Die Ärzte sagten, es gebe keine Zukunft für sie, außer es geschehe ein Wunder. Die Angst und der enorme gesell­schaft­liche Druck, „perfekt“ sein zu müssen, ließen sie am Leben zwei­feln. Sie war nicht da, wo sie sein möchte, sie hatte das Gefühl, woan­ders sein zu müssen, sie wünschte sich so sehr, einfach mit ihren Fingern schnipsen zu können, um an jenem Ort zu sein, der kein Gefängnis für sie sein würde. Dennoch wusste sie, dass sie auch dort das Gefühl von Angst verspüren würde. Angst davor, falsch zu sein, nicht geliebt zu werden, und Angst davor, nicht stark genug zu sein, um früher oder später ohnehin zu sterben. Das Leben hatte keinen Wert mehr und begann nutzlos zu sein. Sie hatte die trau­rige Vermu­tung, es wäre wohl für alle das Beste, dieses zu beenden. Also stand sie in der Nacht auf, holte sich die Schmerz­ta­bletten ihrer Eltern, legte sich in ihr Bett und schluckte sieben davon. Je eine für jeden Tag, den sie als Neuge­bo­renes ohne Schmerzen verbringen durfte …

Nun lag sie auf ihrem Bett und dachte nach. Als ihr bewusst wurde, was sie da eben getan hatte, über­wäl­tigte sie eine Welle der Trauer. Sie konnte es nicht glauben, sie wollte es nicht glauben, dass es bereits Zeit für sie war, zu gehen. Sie wollte noch nicht gehen, doch wusste sie, dass es bereits zu spät war. Während die Tabletten ihre Wirkung zeigten, fiel das Mädchen in einen das Bewusst­sein trübenden Zustand der Trance. Ihr Verstand fing an, sich von ihr abzu­wenden. Alle schienen sich von ihr abzu­wenden, und es waren Fragen über Fragen, die wie ein Orkan durch ihre Gedanken wüteten …

… „Es muss ein Miss­ver­ständnis sein, jemand hat sich vertan“, versuchte das Mädchen zu glauben. „Irgend­je­mand, möchte sich nur einen Spaß erlauben, ein harm­loser Scherz, welcher bald vorbei sein wird.“ „Ja, das muss es sein! Bloß ein kleiner Scherz“, stimmte sie zu. „Oder ist es etwa doch die Realität?“ „Hat man es auf mich abge­sehen?“ „Bin ich es nicht wert zu leben?“ „Habe ich es selbst verschuldet?“ „Was ist da gerade passiert?“, „Was habe ich da gerade nur …“ Bevor sie die Frage beenden konnte, wurde ihr schwarz vor Augen, und während die Sekunden, Minuten, ja beinahe Stunden vergingen, spürte sie, wie ihr Körper immer schwerer wurde …

Niemand war da, der sie retten könnte, und es war auch niemand da, der ihr die Fragen beant­worten würde. Das war der Moment, an dem sie fest­stellen musste, dass dort, wo sie sich hinbe­wegte, keiner sein wird, der auf sie warten würde. Alle Menschen, die sie liebte und die ihr Liebe schenkten, waren auf der anderen Seite, der Seite, der sie zuvor den Rücken zuge­wandt hatte. Diese erbit­terte Einsam­keit berei­tete dem Mädchen große Angst. War sie stark genug, den Kampf zurück zu gewinnen? Sie glaubte nicht …

Doch dann durch­schaute sie eine Sache, die ihr wahr­schein­lich das Leben rettete. Ihr wurde klar, dass Angst nicht real ist. Der einzige Ort, an dem die Angst exis­tieren kann, ist in unserer Vorstel­lung von der Zukunft. Sie ist ein Produkt unserer eigenen Fantasie und lässt uns Dinge fürchten, die in der Gegen­wart nicht exis­tieren und viel­leicht niemals exis­tieren werden. Die Gefahr zu sterben ist sehr wohl real, aber Angst ist eine Entschei­dung, der wir selbst entge­gen­stehen müssen. Sie wollte es versu­chen, sie musste es für ihre Familie versu­chen, und so nahm sie all ihre Kraft zusammen, stellte sich dem entgegen, was ihr Leben beenden sollte und riss sich aus dem Abgrund. Sie hatte es geschafft! Sie lebt …

Ein lautes Piepen ertönte und das Licht wurde wieder heller, doch diesmal war es anders als vor 14 Jahren. Das Piepen ertönte gleich­mäßig und ruhig und das Licht schien sich in der Sonne zu spie­geln, es war warm und freund­lich. Es herrschte eine fried­liche und unschul­dige Atmo­sphäre in dem Zimmer. Beim Umschauen entdeckte sie an der Bett­kante eine sitzende Frau mit einem lächelnden Gesicht. Sie bewegte sich langsam zu ihr hin, beugte sich über das Mädchen und flüs­terte ihr ins Ohr: „Du hast es geschafft, du bist wieder zurück.“ Es war die Mutter des Mädchens, die tage­lang am Kran­ken­bett des Mädchens saß und auf das Erwa­chen ihrer geliebten Tochter wartete. Noch nie zuvor freute sich das Mädchen so sehr, ihre Mutter zu sehen, wie in diesem Augen­blick, denn das bedeu­tete, sie war doch nicht, wie befürchtet, alleine und würde es auch nie mehr sein. Das verstand sie jetzt, erwi­derte das Lächeln ihrer Mutter und versprach ihr, dass so etwas nie wieder passieren würde …

Seit dem Erwa­chen des Mädchens sind weitere fünf Jahre vergangen. Nun war das kleine Mädchen 19 Jahre alt, lebte, liebte und lachte so, wie sie es sich immer erträumt hatte. Sie ist glück­lich, hilft nun anderen Menschen mit ähnli­chen Trau­mata und blickt der Zukunft neugierig ins Auge … 

Es war da.

Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Manchmal, da ist es einfach da.
Beim Einatmen spüren wir es
Beim Ausatmen tut es dann weh.
Früher dachte ich immer nur, dass ich dieses Gefühl in mir trage, dass es kein anderer so empfindet wie ich. Aber wenn man älter wird, sieht man, dass es jeden begleitet. Dass das Gefühl noch stärker wird. Unzäh­lige Gründe, warum es größer wird. Eigent­lich ist es nichts, denn anfassen tun wir es nicht, also muss es auch nichts sein. Trotzdem ist es da. Und
Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Es ist nur ein Gefühl. In meiner Vorstel­lung. Ein schwarzer Punkt in meinem Herzen, der manchmal sehr drückt. Der mich fragen lässt, warum. Nach dem Sinn. Weshalb heute. Denn
Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Es ist ein Teil von mir. Ein Teil von uns. Über den wir nicht reden. Es ist der Grund, warum wir mutig sind. Der Grund, warum wir aufge­regt sind. Die erste Hürde zu unserer Frei­heit. Es gibt uns das Gefühl es durch­bre­chen zu müssen. Doch
Es tut weh.
Es geht nicht weg.
Es schenkt uns einen Grund mehr, zu sein. Mehr zu wollen. Denn das wollen wir nicht. Wir sind stärker. Schaffen es, mehr als nur das Gefühl zu sein.
Es tut noch immer weh.
Es geht auch nicht weg.

Es ist da.


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