• 1. Dezember 2016

Siegerin kehrt heim

Siegerin kehrt heim

Siegerin kehrt heim 1024 683 Dr. Buhmann Schule & Akademie in Hannover

„Durch­ge­knallt“ oder „Heimat“ – zwischen diesen beiden Themen konnten die Teil­nehmer des dies­jäh­rigen Schreib­wett­be­werbs wählen. Die Gewin­nerin wählte Letz­teres und setzte sich mit ihrer Kurz­ge­schichte „Ein Ort auf einer Land­karte“ gegen sieben Mitbe­werber durch.

Chris­tina Gallus, Schul­lei­terin der Dr. Buhmann Schule, lud zur Sieger­eh­rung und die Teil­nehmer waren gekommen, um zu erfahren, wen die eben­falls anwe­senden Jury­mit­glieder als Sieger ausge­wählt hatten. Gallus dankte den insge­samt acht Teil­neh­mern der Dr. Buhmann Schule und der Europa Fach­aka­demie für ihre Einsen­dungen. „Gerade in der heutigen Zeit ist das geschrie­bene Wort von hoher Bedeu­tung“, würdigte sie die Schrift­steller und bedankte sich für den dazu­ge­hö­rigen Mut.

Alle Autoren erhielten eine Urkunde und eine Schoko-Eule als Danke­schön. Für die Gewinner gab es darüber­hinaus Geld­preise. Kristin wurde für ihre Geschichte „You are not stuck where you are, unless you decide to be“ mit dem dritten Platz ausge­zeichnet. Moritz gewann mit „Leben und leben lassen“ gewis­ser­maßen die Silber­me­daille. „Ein Ort auf einer Land­karte“ aber war der Favorit der durch die Lehre­rinnen Williams und Dr. Wurth, sowie durch den ehema­ligen Kultur­re­dak­teuer der Hanno­ver­schen Allge­meinen Zeitung Karl-Ludwig Baader gebil­deten Jury. Ergänzt wurden die Juroren durch Gallus sowie die beiden Schü­le­rinnen Manon und Lucy.

Im Anschluss an die Sieger­eh­rung trug Williams den Sieger­text vor, der in allen Anwe­senden Gästen sicht­lich Erin­ne­rungen an einen ganz spezi­ellen Ort ihrer Vergan­gen­heit weckte. Zum Ausklang und gemüt­li­chen Beisam­men­sein gab es Sekt, Kaffee und Snacks.

Die Sieger-Geschichte von S. Reichert zum Nachlesen:

Hier ist es so still, dass ich nichts höre außer meinen Schritten. Mein Blick ist starr auf den Boden geheftet. Ich brauche nicht aufzu­schauen, ich kenne den Weg auswendig. Sechs­und­achtzig, Sieben­und­achtzig. Zöger­lich setze ich einen Fuß vor den anderen. Acht­und­achtzig, Neun­und­achtzig, Neunzig. Jeder Schritt kostet Kraft. Einund­neunzig, Zwei­und­neunzig. Eigent­lich wollte ich doch gar nicht wieder­kommen, was mache ich denn eigent­lich hier?! Drei­und­neunzig, Vierund… ich halte inne.

Mein Blick bleibt an einem breiten, gezackten Riss im Asphalt hängen. Ich kenne diesen Riss. Früher bin ich so oft mit meinem alten Roller daran hängen geblieben und gestürzt. Oma kam dann immer aus dem Haus gelaufen und hat mich getröstet, mich mit Pflas­tern und Bonbons versorgt. Die Erin­ne­rung lässt mich kurz lächeln. Dieser Ort ist mir so vertraut, dass ich, ohne den Blick von dem Riss zu wenden, weiß, dass rechts von mir die große Lärche stehen müsste, deren Zweige im Dunkeln nach mir griffen und mir Angst einjagten. Und wenn ich mich jetzt um 60° nach links drehen würde, würde ich dort das Haus meiner Groß­el­tern sehen. Nur drei Schritte trennen mich von dem rostigen Gartentor. Ich würde jetzt eigent­lich wie früher diese Schritte über­winden und dann würde ich das Gartentor aufstoßen, das sich mit einem Quiet­schen über die unsanfte Behand­lung beschweren würde. Ich würde direkt um das Haus herum an den Blumen­beeten vorbei in den Garten laufen. Und dann würde ich sie dort sehen.

Je länger ich hier stehe, desto klarer erscheint es vor meinem inneren Auge.

Ich werde sie da sehen. Opa auf dem Stuhl vor dem Schuppen, das Gemüse für das Mittag­essen schnei­dend, und Oma im Haus, kochend am Herd. Und dann wird Opa mir ein Stück Möhre abgeben, um meinen ersten Hunger zu stillen. Und dann werde ich zu Oma gehen und sie umarmen, das Radio wird laufen. Und dann werde ich zur Himbeer­hecke am Ende des Gartens laufen. Immer auf die großen Steine des Weges tretend, darauf achtend, die schmalen Lücken dazwi­schen nicht zu berühren, und weil die Steine so groß sind, werden meine Schritte immer und immer größer werden. Und dann werde ich rennen müssen, um schnell zu den Beeren zu gelangen, an den Johan­nis­beeren vorbei, dort hinten wachsen sie. Und dann werde ich die besten und leckersten Himbeeren über­haupt für den Nach­tisch pflü­cken, wobei die Hälfte schon auf merk­wür­dige Weise für immer verschwinden wird. Nur meine rote Zunge wird verraten, wo sie hin sind. Und dann werde ich denselben Weg wieder zurück­gehen und ich werde wieder anfangen müssen zu rennen, um ja keine Lücke zwischen den Steinen zu berühren, so wie ich es immer mache.

Ich habe bei der Vorstel­lung die Augen geschlossen. Ich kann das Essen schon riechen und auch den verlo­ckenden Duft der Beeren. Schräg rechts hinter mir höre ich die Schafe meckern. Nach dem Essen werden Opa und ich zu ihnen gehen, wie immer, und er wird sie nach­ma­chen, um mich zum Lachen zu bringen.

Diese Vorstel­lung macht mich ganz hibbelig. Ich kann es nicht erwarten, nach so langer Zeit quasi wieder in mein zweites Zuhause zu kommen.

Mein Blick hebt sich von dem Riss im Asphalt und ich drehe mich zu dem Haus meiner Groß­el­tern. Den Blick noch halb gesenkt, runzle ich die Stirn. Hier passt etwas nicht. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass es das Gartentor ist. Es ist rot ange­stri­chen und sieht ganz anders aus. Ob Opa es ausge­tauscht oder neu ange­stri­chen hat?

Schließ­lich kann ich den Blick lösen und richte meine Aufmerk­sam­keit auf das Haus.

Der Schmerz packt mich mit uner­war­teter Wucht und kata­pul­tiert mich aus meinen Fanta­sien zurück in die Wirk­lich­keit. Zum zweiten Mal nach sechs Jahren bricht etwas in mir. Nur diesmal endgültig und für immer. Ich fange an zu zittern und schaue mich nervös um.

Ich sehe ein Haus, welches eigent­lich weiß sein sollte, nun aber grau ist. Ich sehe einen Garten, welcher eigent­lich voller Blumen sein sollte, jetzt aber kahl ist. Ich sehe eine Tür, welche eigent­lich aus Holz sein sollte, die aber eine große Glas­scheibe hat. Ich sehe einen Kiesweg, der keine Möglich­keiten für Spiele lässt. Ich sehe einen Buchs­baum anstelle einer Lärche. Ich sehe Stra­ßen­la­ternen, die nicht mehr alt, sondern modern sind. Ich sehe ein neues Haus anstelle einer Schafwiese.

Verzwei­felt suche ich nach etwas, das mir geblieben ist. Etwas, an das ich mich klam­mern kann, das mir ein Gefühl der Sicher­heit und Vertraut­heit wieder­gibt, welches mich früher hier umfangen hat.

Mit hastigen, pani­schen Schritten gehe ich ein Stück den Weg zurück, den ich gekommen bin, und halte Ausschau nach dem schmalen Pfad zum Spiel­platz, auf dem ich so viel Zeit verbracht habe. Das letzte Stück verfalle ich in einen schnellen Lauf. Als ich ankomme, muss ich schwer schlu­cken. Der Spiel­platz exis­tiert noch. Aber alles, was ich kannte, ist weg. Es gibt eine neue Rutsche, ein neues Klet­ter­ge­rüst und eine neue Wippe. Ich muss blin­zeln, um den feuchten Schleier aus meinen Augen wegzu­be­kommen und wieder klar sehen zu können. Meine Augen huschen auf der Suche nach einer alten, schon etwas brüchigen Korb­schaukel umher. Meine geliebte Korb­schaukel, in der ich immer lag, während mein Opa mir Anschwung gab. Jedoch ist meine Suche erfolglos. Verlassen und einsam stehe ich da. Ein Mensch auf der Suche nach etwas, das ihm geraubt wurde und das er so nie wieder­finden wird.

Etwas zu verlieren, das Heimat bedeutet, ist zunächst etwas Trau­riges, aber nichts Unge­wöhn­li­ches. Alle Menschen erleben früher oder später so etwas.

Was ich wirk­lich verloren habe, wird mir erst jetzt bewusst: Einen Ort, der mich beschützt hat, an dem ich lachen und weinen durfte, an dem ich geliebte Menschen getroffen habe.

Einen Ort, der mir bewiesen hat, dass all meine Erin­ne­rungen wahr sind und keine Fantasie. Eine Heimat, die ich nie wieder auf diese Weise erlangen kann. Diese Erkenntnis trifft mich hart. Alles ist so anders. Ich fühle mich schutzlos, das Gefühl der Gebor­gen­heit von früher ist weg. Auf einmal ist alles nur noch ein Ort, der auf der Land­karte exis­tiert und keine tiefere Bedeu­tung für mich hat. Ich fühle mich fremd und unsi­cher. Langsam drehe ich mich um und gehe den Weg zurück, weg von diesem Ort. Fünf­und­neunzig, Sechs­und­neunzig, Sieben­und­neunzig. Als ich von dem schmalen Pfad wieder auf den Bürger­steig komme, achte ich sorgsam darauf, keine der Linien zu berühren, die die Steine vonein­ander trennen. Acht­und­neunzig, Neun­und­neunzig. Die Erkenntnis des endgül­tigen Verlustes pocht schmerz­haft in meiner Brust. Es fühlt sich an, als hätte man mir einen Teil meiner Kind­heit wegge­nommen. Hundert, Hundert­eins. Ich habe keinen Grund mehr, noch einmal hierher zurück­zu­kommen. An diesen Ort, der alles verloren hat, was mich gehalten hätte. Hundert­zwei, Hundert­drei, Hundertvier.

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