„Durchgeknallt“ oder „Heimat“ – zwischen diesen beiden Themen konnten die Teilnehmer des diesjährigen Schreibwettbewerbs wählen. Die Gewinnerin wählte Letzteres und setzte sich mit ihrer Kurzgeschichte „Ein Ort auf einer Landkarte“ gegen sieben Mitbewerber durch.
Christina Gallus, Schulleiterin der Dr. Buhmann Schule, lud zur Siegerehrung und die Teilnehmer waren gekommen, um zu erfahren, wen die ebenfalls anwesenden Jurymitglieder als Sieger ausgewählt hatten. Gallus dankte den insgesamt acht Teilnehmern der Dr. Buhmann Schule und der Europa Fachakademie für ihre Einsendungen. „Gerade in der heutigen Zeit ist das geschriebene Wort von hoher Bedeutung“, würdigte sie die Schriftsteller und bedankte sich für den dazugehörigen Mut.
Alle Autoren erhielten eine Urkunde und eine Schoko-Eule als Dankeschön. Für die Gewinner gab es darüberhinaus Geldpreise. Kristin wurde für ihre Geschichte „You are not stuck where you are, unless you decide to be“ mit dem dritten Platz ausgezeichnet. Moritz gewann mit „Leben und leben lassen“ gewissermaßen die Silbermedaille. „Ein Ort auf einer Landkarte“ aber war der Favorit der durch die Lehrerinnen Williams und Dr. Wurth, sowie durch den ehemaligen Kulturredakteuer der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung Karl-Ludwig Baader gebildeten Jury. Ergänzt wurden die Juroren durch Gallus sowie die beiden Schülerinnen Manon und Lucy.
Im Anschluss an die Siegerehrung trug Williams den Siegertext vor, der in allen Anwesenden Gästen sichtlich Erinnerungen an einen ganz speziellen Ort ihrer Vergangenheit weckte. Zum Ausklang und gemütlichen Beisammensein gab es Sekt, Kaffee und Snacks.
Die Sieger-Geschichte von S. Reichert zum Nachlesen:
Hier ist es so still, dass ich nichts höre außer meinen Schritten. Mein Blick ist starr auf den Boden geheftet. Ich brauche nicht aufzuschauen, ich kenne den Weg auswendig. Sechsundachtzig, Siebenundachtzig. Zögerlich setze ich einen Fuß vor den anderen. Achtundachtzig, Neunundachtzig, Neunzig. Jeder Schritt kostet Kraft. Einundneunzig, Zweiundneunzig. Eigentlich wollte ich doch gar nicht wiederkommen, was mache ich denn eigentlich hier?! Dreiundneunzig, Vierund… ich halte inne.
Mein Blick bleibt an einem breiten, gezackten Riss im Asphalt hängen. Ich kenne diesen Riss. Früher bin ich so oft mit meinem alten Roller daran hängen geblieben und gestürzt. Oma kam dann immer aus dem Haus gelaufen und hat mich getröstet, mich mit Pflastern und Bonbons versorgt. Die Erinnerung lässt mich kurz lächeln. Dieser Ort ist mir so vertraut, dass ich, ohne den Blick von dem Riss zu wenden, weiß, dass rechts von mir die große Lärche stehen müsste, deren Zweige im Dunkeln nach mir griffen und mir Angst einjagten. Und wenn ich mich jetzt um 60° nach links drehen würde, würde ich dort das Haus meiner Großeltern sehen. Nur drei Schritte trennen mich von dem rostigen Gartentor. Ich würde jetzt eigentlich wie früher diese Schritte überwinden und dann würde ich das Gartentor aufstoßen, das sich mit einem Quietschen über die unsanfte Behandlung beschweren würde. Ich würde direkt um das Haus herum an den Blumenbeeten vorbei in den Garten laufen. Und dann würde ich sie dort sehen.
Je länger ich hier stehe, desto klarer erscheint es vor meinem inneren Auge.
Ich werde sie da sehen. Opa auf dem Stuhl vor dem Schuppen, das Gemüse für das Mittagessen schneidend, und Oma im Haus, kochend am Herd. Und dann wird Opa mir ein Stück Möhre abgeben, um meinen ersten Hunger zu stillen. Und dann werde ich zu Oma gehen und sie umarmen, das Radio wird laufen. Und dann werde ich zur Himbeerhecke am Ende des Gartens laufen. Immer auf die großen Steine des Weges tretend, darauf achtend, die schmalen Lücken dazwischen nicht zu berühren, und weil die Steine so groß sind, werden meine Schritte immer und immer größer werden. Und dann werde ich rennen müssen, um schnell zu den Beeren zu gelangen, an den Johannisbeeren vorbei, dort hinten wachsen sie. Und dann werde ich die besten und leckersten Himbeeren überhaupt für den Nachtisch pflücken, wobei die Hälfte schon auf merkwürdige Weise für immer verschwinden wird. Nur meine rote Zunge wird verraten, wo sie hin sind. Und dann werde ich denselben Weg wieder zurückgehen und ich werde wieder anfangen müssen zu rennen, um ja keine Lücke zwischen den Steinen zu berühren, so wie ich es immer mache.
Ich habe bei der Vorstellung die Augen geschlossen. Ich kann das Essen schon riechen und auch den verlockenden Duft der Beeren. Schräg rechts hinter mir höre ich die Schafe meckern. Nach dem Essen werden Opa und ich zu ihnen gehen, wie immer, und er wird sie nachmachen, um mich zum Lachen zu bringen.
Diese Vorstellung macht mich ganz hibbelig. Ich kann es nicht erwarten, nach so langer Zeit quasi wieder in mein zweites Zuhause zu kommen.
Mein Blick hebt sich von dem Riss im Asphalt und ich drehe mich zu dem Haus meiner Großeltern. Den Blick noch halb gesenkt, runzle ich die Stirn. Hier passt etwas nicht. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass es das Gartentor ist. Es ist rot angestrichen und sieht ganz anders aus. Ob Opa es ausgetauscht oder neu angestrichen hat?
Schließlich kann ich den Blick lösen und richte meine Aufmerksamkeit auf das Haus.
Der Schmerz packt mich mit unerwarteter Wucht und katapultiert mich aus meinen Fantasien zurück in die Wirklichkeit. Zum zweiten Mal nach sechs Jahren bricht etwas in mir. Nur diesmal endgültig und für immer. Ich fange an zu zittern und schaue mich nervös um.
Ich sehe ein Haus, welches eigentlich weiß sein sollte, nun aber grau ist. Ich sehe einen Garten, welcher eigentlich voller Blumen sein sollte, jetzt aber kahl ist. Ich sehe eine Tür, welche eigentlich aus Holz sein sollte, die aber eine große Glasscheibe hat. Ich sehe einen Kiesweg, der keine Möglichkeiten für Spiele lässt. Ich sehe einen Buchsbaum anstelle einer Lärche. Ich sehe Straßenlaternen, die nicht mehr alt, sondern modern sind. Ich sehe ein neues Haus anstelle einer Schafwiese.
Verzweifelt suche ich nach etwas, das mir geblieben ist. Etwas, an das ich mich klammern kann, das mir ein Gefühl der Sicherheit und Vertrautheit wiedergibt, welches mich früher hier umfangen hat.
Mit hastigen, panischen Schritten gehe ich ein Stück den Weg zurück, den ich gekommen bin, und halte Ausschau nach dem schmalen Pfad zum Spielplatz, auf dem ich so viel Zeit verbracht habe. Das letzte Stück verfalle ich in einen schnellen Lauf. Als ich ankomme, muss ich schwer schlucken. Der Spielplatz existiert noch. Aber alles, was ich kannte, ist weg. Es gibt eine neue Rutsche, ein neues Klettergerüst und eine neue Wippe. Ich muss blinzeln, um den feuchten Schleier aus meinen Augen wegzubekommen und wieder klar sehen zu können. Meine Augen huschen auf der Suche nach einer alten, schon etwas brüchigen Korbschaukel umher. Meine geliebte Korbschaukel, in der ich immer lag, während mein Opa mir Anschwung gab. Jedoch ist meine Suche erfolglos. Verlassen und einsam stehe ich da. Ein Mensch auf der Suche nach etwas, das ihm geraubt wurde und das er so nie wiederfinden wird.
Etwas zu verlieren, das Heimat bedeutet, ist zunächst etwas Trauriges, aber nichts Ungewöhnliches. Alle Menschen erleben früher oder später so etwas.
Was ich wirklich verloren habe, wird mir erst jetzt bewusst: Einen Ort, der mich beschützt hat, an dem ich lachen und weinen durfte, an dem ich geliebte Menschen getroffen habe.
Einen Ort, der mir bewiesen hat, dass all meine Erinnerungen wahr sind und keine Fantasie. Eine Heimat, die ich nie wieder auf diese Weise erlangen kann. Diese Erkenntnis trifft mich hart. Alles ist so anders. Ich fühle mich schutzlos, das Gefühl der Geborgenheit von früher ist weg. Auf einmal ist alles nur noch ein Ort, der auf der Landkarte existiert und keine tiefere Bedeutung für mich hat. Ich fühle mich fremd und unsicher. Langsam drehe ich mich um und gehe den Weg zurück, weg von diesem Ort. Fünfundneunzig, Sechsundneunzig, Siebenundneunzig. Als ich von dem schmalen Pfad wieder auf den Bürgersteig komme, achte ich sorgsam darauf, keine der Linien zu berühren, die die Steine voneinander trennen. Achtundneunzig, Neunundneunzig. Die Erkenntnis des endgültigen Verlustes pocht schmerzhaft in meiner Brust. Es fühlt sich an, als hätte man mir einen Teil meiner Kindheit weggenommen. Hundert, Hunderteins. Ich habe keinen Grund mehr, noch einmal hierher zurückzukommen. An diesen Ort, der alles verloren hat, was mich gehalten hätte. Hundertzwei, Hundertdrei, Hundertvier.